Als sie nun schließlich am Tisch saßen, nachdem sich alle mehr oder weniger erfreut begrüßt hatten, warf sie Aylin einen warnenden Blick zu, welchem ihre Tochter gelangweilt auswich.
Während Caroline nun ausgefragt wurde, wie es auf ihrer ach so tollen Geschäftsreise denn gewesen sei, stopfte sich Aylin mit dem köstlichen Essen voll und vergaß kurz, wie wenig sie dessen Koch leiden konnte.
Als sie fertig war, stand sie einfach ohne ein weiteres Wort auf und machte Anstalten den Raum zu verlassen.

"Aylin?"

'Der Typ steht auf meiner Todesliste definitiv auf Platz 1.'

"Ja?", antwortete sie knapp und ohne sich umzudrehen, blieb aber dennoch stehen.
"Willst du uns nicht erst sagen, wo du gedenkst hinzugehen? Wo du den Tisch doch schon so unfreundlich schweigend verlassen hast."

Gedenkst hinzugehen? Unfreundlich schweigend? In welchem Jahrhundert lebte dieser Typ eigentlich?
Hielt sich wohl für besonders gebildet.
"Ich fliege zum Mond.", gab sie sarkastisch zurück und hörte ein tiefes Seufzen ihrer Mutter.
"Aylin, antworte bitte ordentlich."
Aylin verzog den Mund. Sie nahm ihrer Mutter ebenfalls vieles übel, aber sie wollte ihr wenigstens eine andere Haltung entgegenbringen als Roy.

"Ich geh in mein Zimmer Hausaufgaben machen.", grummelte sie und verließ endlich die Küche, ohne eine weitere Antwort abzuwarten.
In ihrem Zimmer im obersten Stock angekommen, rutschte sie mit ihrem Rücken an der geschlossenen Tür auf den Boden und zog die Knie an.                                                                                 Sie hatte überhaupt keine Hausaufgaben. Zumindest glaubte sie das. Sie gab nicht besonders viel auf Schule und ihre Noten und dementsprechend sah auch ihr sehr mittelmäßiges Zeugnis aus.

Vor drei Jahren war sie noch die perfekte Schülerin und Tochter gewesen. Sie hatte nur Einsen und Zweien geschrieben. Auf sie war immer Verlass gewesen. Aber dann hatte sich ein verhängnisvoller Unfall zugetragen, der ihr Leben für immer veränderte.
Eigentlich hatte sich gar kein richtiger Unfall zugetragen.
Ihr Vater war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und war so unschuldiges Opfer eines Mordes geworden.

Dieser Vorfall hatte ihre komplette Welt und ihr Familienleben erschüttern lassen.
Ihr Bruder war damals erst vier Jahre alt gewesen, weswegen er sich nicht wirklich an ihren Vater erinnern konnte, aber Aylin hatte damals grade ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert gehabt. Sie war sich sehr wohl darüber bewusst gewesen, was geschehen war.

In den drei Jahren, von da an, hatte sie sich in der Schule massiv verschlechtert und das fröhliche Mädchen von früher war fast nicht mehr wieder zuerkennen.
Damals hatte sie gedacht, dass ihre Mutter nie wieder heiraten würde, mit ihren fünfzig Jahren. Immer wieder hatte diese betohnt, wie sehr sie Aylin's Vater geliebt hatte und dass sie ihn, genau wie Aylin, niemals vergessen könnte. Als dann plötzlich in regelmäßigen Abständen ein ein Meter achzig Typ, ungefähr Mitte Vierzig, mit einem blöden Grinsen vor ihrer Haustür auftauchte, war Aylin zu tiefst verletzt und enttäuscht gewesen.
Aber das hatte Caroline nicht verstanden. Sie meinte, dass Aylin und Dean einen Vater bräuchten und sie selber nicht ewig an ihrem verstorbenen Ehemann festhalten könne.
Aylin solle wenigstens versuchen, sich auf Roy einzulassen.
Aber sie traute dem Schleimer einfach nicht. Hatte sie nie. Wollte sie nie. Würde sie nie.
Dies war vor einem Jahr passiert und seitdem herrschte immer noch eisige Stimmung zwischen Aylin und ihrer Mutter. Aber wenigstens den alten Nachnamen ihres Vaters hatten sie trotz der Heirat behalten. Caroline wusste, wie sehr Aylin an ihm hing.

Trewhella.

Freunde hatte Aylin nicht viele.
Nachdem ihr Vater umgebracht worden war, meinten viele, sie sei komisch und abweisend geworden und die meisten wandten sich somit von ihr ab.
Und das Schlimmste war: Aylin wusste, dass sie Recht hatten. Sie war komisch und abweisend geworden.
Viele, die ihr außergewöhnliches Aussehen über Jahre hinweg akzeptiert hatten, fingen nun außerdem noch an, sie dafür zu hänseln, was sie umsomehr verletzte.

Bis zu diesem Vorfall hatte Aylin so gut wie vergessen gehabt, dass sie etwas anders aussah.
Klar, es hatten sie schon immer Leute angestarrt und ihre unterschiedlich farbenen Augen verwundert betrachtet, dessen Phänomen eine Pigmentstörung hervorgerufen hatte, mit welcher sie geboren worden war.
Aber sie hatte es nie als etwas schlechtes bezeichnet.
Alle hatten sie eher darum beneidet eine giftgrüne und eine pechschwarze Iris zu besitzen.
Aber ab dann war es ihr nur zum Verhängnis geworden und sie bevorzugte es nun oft außerhalb des Hauses eine Sonnenbrille zu tragen, wenn es das Wetter zuließ.
Sie wollte einfach nicht mehr so aus der Menge herausstechen.

Aylin drehte den Kopf und sah zum großen Fenster, auf der anderen Seite ihres Zimmers, welches bis auf den Boden reichte. Erinnerungen durchströmten sie. So oft hatte sie sich zum Spaß mit ihrem Vater dort auf die Lauer gelegt und die verschiedensten Leute beobachtet und diese wie Detektive analysiert, als sie noch kleiner gewesen war.
Oft hatten sie auch leise die Vögel bewundert, welche in die Bäume nahe am Fenster geflogen waren.

Meistens hatte Aylin dort aber einfach nur gesessen, wenn sie in Ruhe nachdenken wollte, oder wenn sie sauer gewesen war.

Aylin schloss die Augen. Langsam rollte eine Träne über ihre Wange, welche sie wahrscheinlich schon zu lange zurückgehalten hatte.

Aber nach dieser Träne kam keine mehr.

Vielleicht habe ich einfach schon mein Limit erreicht, dachte sie bitter und musste fast über den blödsinnigen Gedanken lachen.
Sie stand auf und ließ sich ein paar Schritte weiter auf ihr Bett plumpsen.
Sie war einfach nur müde.

Passend zu ihrer Stimmung hörte sie ein leises aber verheißendes Grollen aus der Ferne.
Offensichtlich würde ihnen ein Sommergewitter bald einen kleinen Besuch abstatten.

Mit einem 'hmpf' vergrub Aylin das Gesicht in ihr Kissen.
Manchmal wollte sie einfach nur alles vergessen.

Moonlight AcademyWhere stories live. Discover now