4. Kapitel

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Mit meiner Tasche für die Schule und meinem Rucksack, indem sich meine Klettersachen befinden, verlassen Marlon und ich das Haus. Eigentlich wollte ich bereits gestern nach der Schule in die Boulderhalle fahren, doch ein Überraschungsbesuch von Bruno am Nachmittag haben meine Pläne durcheinander gebracht. Er kam nach dem Nachmittagsunterricht. Es hat mich überrascht, dass er ausgerechnet an seinem längsten Tag in der Schule aufgekreuzt ist und nicht wie den Tag zuvor geschwänzt hat. Doch heute lasse ich nichts dazwischen kommen.

„Gehst du heute Bouldern?", will mein Bruder wissen und zeigt auf meinen Rucksack, den ich behutsam in meinem Kofferraum verstaue.

„Ja, warum?"

„Kann ich mit?" Die Augen meines kleinen Bruders schauen mich bettelnd an. Für gewöhnlich weiß er, dass wenn ich Klettern gehe, meine Ruhe haben will. Doch da unsere gemeinsame Zeit, in letzter Zeit viel zu kurz gekommen ist und ich ihn in der Tat vermisse, lasse ich ihn noch schnell seine Tasche packen und warte unterdessen im Auto.

Seitdem ich am Mittwoch das Profil von Herr Engel auf Instagram entdeckt habe, verbringe ich viel zu viel Zeit darauf. Ich kenne inzwischen jedes einzelne Bild in- und auswendig. Und auch jetzt, während ich auf Marlon warte, kann ich nicht anders, als es aufzusuchen.

Ein roter Kreis umkreist sein Profilbild, der gestern Abend noch nicht da war, er muss heute schon aktiv gewesen sein. Ich spüre ein Kribbeln in meinen Fingern, mir die Story anzuschauen. Ich würde gerne wissen, was er gerade macht, aber wenn ich das mache, sieht er, dass ich ihn gefunden habe. Also widerstehe ich dem Drang und schaue mir einfach erneut seine Bilder an, bis ich Marlon die Haustür schließen sehe. Schnell schalte ich mein Smartphone aus und lege es in die Ablage.

„Können wir los?", frage ich Marlon und tue so, als ob ich bloß auf ihn gewartet hätte.

Auf dem Parkplatz parke ich auf dem Parkplatz, auf dem ich schon die ganze Woche parke und hoffe insgeheim, dass auch mein Parkplatznachbar wieder den gleichen Parkplatz in Beschlag nehmen wird. Zu gerne würde ich warten, bis er kommt, aber durch die Aktion, dass Marlon noch seinen Rucksack packen und holen musste, haben wir Zeit verloren und gehen in die Schule.

Zu meiner Überraschung sitzt Bruno schon an unserem Platz und ist so in die Matheaufgaben vertieft, dass er gar nicht mitbekommt, dass ich mich neben ihn setze.

„Guten Morgen", begrüße ich ihn und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.

„Hey", begrüßt er mich schwach und schaut nicht mal von seinen Aufgaben auf.

„Wenn ich dir einen Tipp geben darf, du solltest dich im letzten Jahr vielleicht ein wenig mehr um deine schulischen Aufgaben kümmern, dann müsstest du nicht immer kurz vor Beginn der Stunde die Hausaufgaben abschreiben", sage ich sarkastisch und erreiche, dass er mich endlich ansieht.

„Das hätte ich gestern Abend gerne gemacht, aber eine gewisse Frau Thaler hat mich mit ihrem göttlichen Körper abgelenkt", flüstert er leise in mein Ohr und streift mit seinen Lippen die empfindliche Haut an meinem Hals. Die Erinnerungen des gestrigen Abends machen sich vor meinem inneren Auge breit. Viele nackte Körperteile erscheinen und lassen es mir heiß den Rücken runterlaufen.

Unsere letzte Mittagspause in dieser Woche, verbringen wir im Klassenzimmer, da wir einer der einzigen Klassen sind, die heute überhaupt noch eine Mittagspause haben und sowieso nichts los ist. Und mit der Klasse von meinem Bruder müssen wir nicht unbedingt unsere Mittagspause verbringen.

Viel lieber setzen wir uns an Brunos und meinen Tisch und beklagen uns, dass wir überhaupt am Freitag eine Mittagspause brauchen. Schlimm genug, dass wir heute vier Stunden bei Frau Glanz hatten und dann auch noch Nachmittagsunterricht. Nicht mal das, hat uns die Schule als Abschlussklasse erspart. Das einzige positive an der Sache ist, dass wir mein Lieblingsfach haben, Deutsch.

„Was machen wir heute Nachmittag?", will Thea wisse und schaut durch die Runde, wie ich Thea kenne, will sie sicher irgendetwas starten.

„Ich habe heute leider keine Zeit, ich muss nach der Schule meiner Mutter im Restaurant helfen", berichtet Melissa, ohne von ihrem Handy aufzusehen.

„Schon wieder? Musstest du das nicht schon letztes Wochenende?", jammert Thea und sieht erwartungsvoll zu mir und Bruno.

„Ich habe heute Fußballtraining und danach wollten die Jungs und ich in diese neue Bar, die in der Nähe des Sportzentrums eröffnet hat."

„Und was ist mit dir Toni? Du kannst mich nicht auch noch versetzen?", Thea lehnt sich über den Tisch zu mir rüber und schaut mich mit ihrem Hundeblick an.

„Ich gehe nach der Schule erst mit Marlon Bouldern, aber heute Abend können wir gerne etwas unternehmen", auch wenn ich den Abend alleine verbringen wollte, kann ich ihrem Hundeblick nicht widerstehen und gebe nach.

„Das nenne ich eine wahre Freundin! Nehmt euch mal ein Beispiel an ihr" Thea streckt den beiden anderen die Zunge raus und lehnt sich entspannt in ihrem Stuhl zurück.

Von den anderen zwei bekommt sie als Reaktion lediglich ein Augenrollen.

Es klingelt zur letzten Stunde und die restlichen Schüler, die es für nötig gehalten haben, nicht zu schwänzen trotten auf ihren Platz. Zu meiner Überraschung sogar Tina und ihre zwei Anhängsel, die keine eigene Meinung haben, solange sich Tina bei ihnen befindet.

„Schön, dass sie an diesem Freitag Nachmittag noch alle so zahlreich erschienen sind, obwohl ich jeden, der das schöne Wetter außerhalb dieses Klassenzimmers genießen möchte, gut verstehen kann", begrüßt uns Herr Engel, der heute bloß in einem weißen T-Shirt, einer dunkelblauen Jeans und mit weißen Sneakern erschienen ist.

„Leider bin ich noch nicht dazu gekommen, Ihre Aufsätze zu lesen, aber dafür habe ich in den Unterlagen von Herrn Hene ein Gedicht gefunden, mit dem wir uns heute beschäftigen können."

Gelangweiltes Stöhnen, ist aus der hintersten Reihe zu hören. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, was meine Mitschüler erwarten, dass der Unterricht erst dann richtig beginnt, kurz bevor wir unsere Abschlussprüfungen schreiben? Das ist so was von unglaubwürdig.

Tina aus der letzten Reihe meldet sich, während Herr Engel eine Reihe von Blättern durch gibt. „Ja, Tina?", nickt er ihr zu.

„Wie wäre es, wenn wir anstatt des Gedichts, ein wenig über Sie erfahren könnten?", schlägt sie vor und ihre zwei Freundinnen, die neben ihr sitzen, stimmen ihr heftig nickend zu. „Ich meine, immerhin wissen Sie durch die letzte Hausaufgabe so gut wie alles über uns. Unseren Lebenslauf, unsere Hobbys, unsere Vorlieben und unsere Ziele für nach dem Abitur. Ich finde, das wäre nur fair!"

Herr Engel, der seine typische Haltung eingenommen hat und rücklings gegen seinen Schreibtisch lehnt, schnaubt und kratzt sich mit seinen Fingern über seinen gestutzten drei-Tage-Bart. „Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht in eine falsche Richtung ausufert."

„Ach, kommen Sie schon, Herr Engel. Wir sind neugierige Teenager und sie gar nicht so viel älter als wir. Bei Fragen von uns, die Sie nicht beantworten wollen, geben Sie einfach keine Antwort", lässt Tina nicht locker und versucht weiter ihn umzustimmen.

Von meinem Platz aus, kann ich ihm ansehen, dass er mit sich ringt. Ihm ist sicher bewusst, dass er keine allzu freundschaftliche Beziehung zu seinen Schülern aufbauen sollte, gerade weil er nicht viel älter als wir ist. Aber mit dem Argument von Tina, dass er mit den Aufsätzen so gut wie alles über uns weiß, hat sie recht.

„Na schön, aber erst am Ende der Stunde, vorher besprechen wir das Gedicht", gibt er schließlich nach und die Klasse, vor allem die drei Mädels aus der hintersten Reihe jubeln lautstark und freuen sich, dass Tina ihn dazu überreden konnte.

Und auch ich, wenn ich es nur ungern zugebe, bin gespannt was ich noch über ihn erfahren kann, was ich noch nicht über sein Instagram Profil herausgefunden habe.

Wie versprochen beendet Herr Engel 15 Minuten vor Schluss seinen Unterricht und lehnt sich in seinem Lehrerstuhl zurück. Und auch, wenn er versucht so entspannt wie möglich auszusehen, kann ich von seiner Körpersprache ablesen, dass er ein wenig nervös ist. Sein Bein wippt ständig auf und ab.

„Also, was wollt ihr wissen?", eröffnet er die Fragerunde und sofort schnellen die Finger nach oben. Wenn so viele Finger nur mal während des Unterrichts in die Höhe gehen würden.

„Wie alt sind Sie?", ist die erste Frage, zu Anfang etwas Einfaches.

„27." 27? Dann sind es nicht mal 10 Jahre, sondern bloß 9 Jahre Unterschied.

„Wie heißen Sie mit Vornamen?"

Schweigen.

Schade, ich wüsste gerne, ob meine Vermutung stimmt und er Niklas heißt.

„Ist das Ihre erste Stelle als Lehrer?", will Maike wissen.

„Nein, ich habe bevor ich mich hier beworben habe, schon drei Jahre in Köln unterrichtet", sagt er ehrlich und das Auf und Ab Wippen seines Beines wird weniger.

„Was treibt Sie von Köln hier her in einen Vorort von Berlin?", ist die nächste Frage von Nico.

„Ich komme ursprünglich von hier und bin bloß für mein Studium nach Köln gezogen und jetzt wollte ich wieder zurück in die Nähe meiner Familie.", antwortet Herr Engel und schluckt hörbar schwer.

„Zusammen mit ihrer Freundin oder alleine?", fragt Tina mit einer verführerischen Stimme.

Herr Engel zieht seine beiden Augenbrauen nach oben und macht ein ernstes Gesicht. Dass diese Frage kommen wird, war klar. Wird er sie ehrlich beantworten?

Er lässt sich einen kurzen Moment Zeit für seine Antwort.

„Alleine", sagt er schließlich, doch der finstere Ausdruck bleibt. „Ich denke, das ist fürs Erste genug, ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende."

Die letzte Frage hat den Bogen wohl überspitzt. Er würdigt die Klasse keines Blickes mehr und schnappt sich sein Buch und macht Notizen. Alle packen fluchtartig ihre Sachen zusammen und verschwinden aus der Klasse, noch bevor der abschließende Gong die Stunde offiziell beendet.

„Ich ruf dich morgen an", verabschiedet sich Bruno bei mit uns drückt mir flüchtig einen Kuss auf die Lippen. Noch bevor ich irgendetwas erwidern kann ist Bruno auch schon verschwunden und ich bin die Letzte, die sich mit Herr Engel in der Klasse befindet.

In mir spüre ich einen Drang, nochmal zu ihm zu gehen und ihn auf das Namensthema anzusprechen, doch wenn er noch keinen der Aufsätze gelesen hat, ergibt das keinen Sinn und schon gar nicht, wenn er ganz offensichtlich, nicht angesprochen werden will.

Stillschweigend räume ich all meine Unterlagen in meine Tasche und gehe auf die Tür zu, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er sieht nicht einmal auf, als ich versehentlich gegen einen Stuhl laufe und ein lautes Geräusch entsteht. Vor der Tür mache ich kurz halt und sehe ein letztes Mal zu ihm, er ist immer noch vertieft in seine Notizen. Ich atme ein letztes Mal schwer aus und setze zum Gehen an, bis er seinen Kopf hebt und mich in den Fokus nimmt.

„Antonia", setzt er an und ich halte in der Bewegung inne. „Ihren Hausaufgaben kann ich entnehmen, dass ihr Leben schon komplett durchgeplant ist."

Überrascht über seine Aussage, spüre ich, wie meine Hände schwitzig werden. Hat er nicht zu Beginn der Stunde gesagt, er hätte die Hausaufgaben noch nicht gelesen.

„Entschuldigung?"

„Nicht nur, dass Sie schon eine Uni haben, auf die sie gehen wollen, wissen Sie schon ganz genau, dass sie Jura studieren werden, dass sie nach Berlin-Mitte ziehen wollen, mit wem und wie ihr Leben danach aussehen soll. Finden Sie das nicht ein wenig zu früh, für ihr Alter?", er hält meinem Blick stand. Ich bin begeistert, er hat sich wirklich meinen Aufsatz sorgfältig durchgelesen.

„Ich bin ein sehr strukturierter Mensch, ich plane gerne. Das habe ich vermutlich von meiner Mutter", entgegne ich ihm.

„Beeindruckend. In ihrem Alter wusste ich noch nicht, dass ich mal Lehrer werden möchte. Manchmal bin ich mir immer noch nicht sicher, ob es das Richtige für mich ist", fährt er lächelnd fort.

„Manche wissen eben, was sie wollen", kontere ich und verschränke die Arme vor der Brust und hoffe, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hat und nun endlich aufhört mich Antonia zu nennen.

„Sie werden sicher mal eine gute Anwältin, Antonia", erwidert er und ein freches Grinsen zeichnet sich auf seinen Lippen ab. So gefällt er mir viel besser, der finstere Blick steht ihm nicht.

Lächelnd schüttele ich meinen Kopf und verdrehe die Augen. „Ich dachte, Sie hätten die Aufsätze noch nicht gelesen?", konfrontiere ich ihn und kann sehen, dass er mit dieser Frage nicht gerechnet hat und verlegen zu seinen Unterlagen sieht.

„Das war vielleicht eine kleine Lüge", erwidert er und reibt sich den Nacken.

Jetzt wo er wieder so gut gelaunt ist, nehme ich all meinen Mut zusammen und traue mich, doch nochmal das Namensthema anzusprechen.

„Darf ich Sie noch eine letzte Sache fragen?"

Herr Engel hebt wieder seinen Kopf und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Natürlich."

„Warum weigern Sie sich, mich Toni zu nennen?"

Dem kurzen Auflachen zumute, hat er nicht mit dieser Frage gerechnet und entspannt sich wieder. „Ich mag Ihren Namen sehr gerne. Antonia gefällt mir. Spitznamen hat man nur in der Kindheit."

Er mag meinen Namen? Antonia? Da ist er neben meinen Eltern wohl der einzige.

„Warum nennen Sie sich dann Nick, anstatt Niklas, wenn Ihnen Spitznamen nicht gefallen?"

Erschrocken sieht er mich an, dass ich seinen Namen weiß, hat er nicht erwartet.

„Nick ist mein richtiger Name." Oh verdammt. „Woher kennen Sie meinen Namen? Ich habe ihn nie erwähnt."

„Was man auf social Media nicht alles findet", erwidere ich lächelnd und ergreife die Flucht. Lasse meinen Lehrer fassungslos alleine zurück, ohne auf seine Antwort zu warten.

Es muss ein Geheimnis bleibenWhere stories live. Discover now