escape

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Total resigniert starrte ich gegen die kahle Zimmerwand und beobachtete den seit Stunden gegen das Fenster schlagenden Regen.

Keine Ahnung wie lange ich hier schon hockte. Auf dem Zimmer war niemand außer mir, die anderen waren runter in die Cafeteria gegangen. Ich hatte kein Hunger. Zumindest nicht auf diesen Fraß den sie uns dort vorsetzten. Die Heizung war seit Tagen kaputt und ich fröstelte. Langsam erhob ich mich von meinem Metallbett und ging in Richtung meiner Kommode. Wenn man das denn als solches bezeichnen kann. Wohl eher als Schränkchen. Wir waren zu viert im Zimmer, es gab zwei Etagenbetten und vier Schränkchen.

Sie hatten mich hierhin gebracht nachdem ich von meinen Pflegeeltern abgehauen war. Zwei ganze Monate hatte ich es geschafft mich auf der Straße alleine durchzuschlagen. Dann kamen die Bullen.

Seit dem war ich hier, im Kinderheim. Auch wenn das Wort „Anstalt für psychisch gestörte Minderjährige" es besser treffen würde. So wie die uns behandeln...

Na ja, immer noch besser als zu Hause zu sein. Okay, was heißt hier zu Hause. Ich hatte kein zu Hause mehr, von dem Zeitpunkt vor drei Jahren an, an dem meine Eltern gestorben waren. Ich hatte nur noch meinen kleinen Bruder. Doch selbst den hab ich jetzt verloren. Nur weil ich so egoistisch war, und nur über mein Leben nachgedacht hatte, über mich, wie viel besser es mir ohne meine Pflegeeltern gehen würde, wie viel glücklicher ich wäre, wie viel mehr Freiheit ich hätte.

Tja, sieht man ja, wie frei ich jetzt bin. Eingesperrt in einem grauen Kasten voller schreiender Kinder. Ich bekam einen Klos im Hals, als ich daran denken musste, was mein Bruder jetzt alles durchmachte. Was Giovanni ihm antun würde. Jetzt wo ich nicht mehr da war, um den Sündenbock zu spielen.

Das vibrieren meines iPhones ließ mich zusammenzucken. Ein neuer Tweet von Sami.

Sami...

Ich glaube, ohne Handy wäre ich hier vollkommen durchgedreht. Kein Handy heißt für mich schließlich auch kein Twitter, und kein Twitter heißt keine neuen Benachrichtigungen von Sami. Und das war wohl das einzige, was mir momentan noch einigermaßen Kraft schenkte.

Er hatte getwittert, dass er aufgrund der Fashion Week in Mailand für die nächste Woche nach Italien kommen würde. Anschließend gäbe es in Österreich und der Schweiz mehrere Slimani Meet and Greets. Mein Herz machte einen Satz. Sami, hier in Italien? Außgerechnet in Mailand? Ich spürte förmlich, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete.

Ich hatte solange nach einem plausiblen Grund gesucht auch von hier abzuhauen. Natürlich, eigentlich bräuchte ich keinen. Es war schrecklich. Aber irgendwie beruhigte es mich, wenn ich wusste warum ich das alles tat.

Wegen Sami.

Ich hatte null Bock bis nächste Woche Montag zu warten. Heute war Donnerstag und mit der Aussicht auf das Kommende würde ich es garantiert keine weiteren vier Tage in diesem Haus in Turin aushalten.

Ich brauchte Geld. Mindestens zehn Euro, ich hatte keine Lust schwarz zu fahren. Aber ich hatte kein Geld. Unentschlossen schielte ich zu der Kommode meiner einen Zimmermitbewohnerin hinüber. Ich wusste, dass sie dort drin ihr Geld versteckte. Yara vertraute mir. Und Vertrauen sollte man nicht missbrauchen. Trotzdem öffnete ich kurzentschlossen ihre Schublade, kramte ihr Portemonnaie heraus und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden. Rasch schloss ich die Schublade wieder und setzte mich zurück auf mein Bett. 20 Euro hatte ich jetzt sicher. Davon würde ich mir für zwei, mit etwas Glück, drei Tage so viel Essen kaufen können, dass ich zumindest nicht hungern musste. War doch schon mal etwas.

Ungeduldig starrte ich nun auf die Funkuhr auf meinem Nachtisch. Um fünf Uhr durften wir nach draußen. In einer halben Stunde also konnte es beginnen. Wenn die Zeiger sich denn ein wenig schneller bewegen würden...

Der kalte Wind peitschte mir ins Gesicht und ich zog meine Kapuze noch ein Stück tiefer, sodass sie fast meine Augen verdeckte. Ich und Lydia gingen schweigend die Straße entlang. Niemand kontrollierte, wo wir in unseren freien Stunden hingingen. Wenigstens diese Freiheit ließen sie uns. Alles war ok, nur sobald wir einen Fuß außerhalb Turins setzten waren wir dran. Ach, und wir mussten mindestens zu zweit sein. Ich und Lydia sind von Anfang an zusammen gegangen. Sie brachten uns am selben Tag ins Heim, wir schliefen im selben Zimmer, besuchten die selben Kurse. (Unser Heim war gleichzeitig auch eine Schule. Für schwererziehbare. Haha)

Und wie es schien, würden wir auch am selben Tag das Heim verlassen. Und ich hoffte inständig, dass sie mitmachen würde. Ansonsten würde das alles viel früher auffallen, und wenn ich Pech hatte, würde Lydia auch noch verpetzen wo ich hinwollte. Aber so jemand war Lydia nicht. Ich habe ihr vertraut. Okay, Yara hat mir auch vertraut. Ich habe sie beklaut. Scheiße.

Aber Lydia ist anders.

Ich eigentlich auch.

Oh man, es würde schon alles gut werden. Bis zum Bahnhof waren es höchstens noch zehn Minuten fußmarsch. Und bis dahin würde Lydia keine Fragen stellen. Von anfang an war ich diejenigen die uns durch die Straßen Turins führte. Ich kannte mich hier aus, sie nicht. Ich hatte hier zwei Jahre meines verdammten Lebens verbracht, sie nicht. Sie war in Mailand aufgewachsen. Noch einen Grund sie mitzunehmen. Ich in Deutschland. Sie war Italienerin, ich Deutsche. Sie kannte sich in Mailand aus, ich nicht. Und da sah ich ihn. Den Bahnhof. Entschlossen steurte ich darauf zu, und erst als wir vor der Eingangshalle standen, zog Lydia mich am Arm.

„Demi? Bahnhof?", fragte sie.

„Sieht wohl so aus", entgegnete ich rasch.

„Warum?"

„Hast du etwa Bock bis zu deinem Achtzehnten in diesem Heim zu veröden?"

Langsam schüttelte sie den Kopf. In ihren haselnussbraunen Augen spiegelte sich leichte Verwirrung.

„Ich muss nach Mailand"

„Demi, du musst überhaupt nicht"

„Doch. Lydia? Komm mit mir. Ich brauche dich."

„Wenn die uns kriegen, dann war's das. Das weißt du"

„Ja"

Lydia musterte mich mit einem undefinierbaren Blick ehe sie nickte.

„Wir haben kein Geld", gab sie zu bemerken.

„Ich habe Geld"

„Woher?"

„Spielt das eine Rolle? Jetzt komm!", mit einem Blick auf die Anzeigetafel zog ich sie tiefer ins Innere des Bahnhofes hinein.

Gefühlte fünf Stunden später saßen wir im Zug. Nach Mailand. Mit etwas Glück zu Sami.

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DANKE fürs Lesen :))) Ich hoffe es gefällt euch, wenn ja dann voted doch bitte bitte ganz fleißig <3

(Sami Slimani Fanfiction) when a hero comes alongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt