Die Akademie der Lichtalben...

By Sandra_Caterina

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Bei der 18-jährigen Erys Marblod ist die Überraschung groß, als genau sie einen Platz an der berühmten Akadem... More

Das große Lexikon der Alben I: Alben & Verfluchte
Prolog - Eine kurze Geschichte der Nachtalben
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Nachwort + Band 2
Winter-Special: Neujahr

Kapitel 4

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By Sandra_Caterina

Mein dritter Tag an der Akademie begann mit dem ohrenbetäubenden Geräusch von Porzellan, das auf Hartholzboden zerschellte. Verwirrt blinzelte ich in das Sonnenlicht, das durch mein Schlafzimmerfenster hereinströmte. Es war Morgen und jemand musste eine Tasse zerbrochen haben.

Verschlafen richtete ich mich auf und sah nach der Uhrzeit. Kurz nach Acht; das bedeutete, dass es höchste Zeit war, sich zu beeilen. Ich schlug die Decke mit Schwung zurück.

In den nächsten 10 Minuten kletterte ich in rekordverdächtigem Tempo aus dem Bett, wusch mir das Gesicht und schlüpfte in den erstbesten Hoodie, den ich zu fassen bekam, bevor ich in die Küche schlitterte. Mein Herz raste und ich atmete, als wäre ich einen Halbmarathon gelaufen – aber zumindest würde ich es rechtzeitig in meinen ersten Kurs schaffen. Avna und Edwin, die in der Küche beieinanderstanden, beachteten meinen Stunt gar nicht.

Die beiden waren in eine einseitige Diskussion vertieft, weshalb ich mich der heißen Tasse Kaffee, die unbeobachtet und unberührt auf einer Theke herumstand, annahm. Ich schloss genießerisch die Augen, während sich das Röstaroma in meinem Mund ausbreitete – hoffentlich würde das Koffein meinen Körper aufwecken. Meine schmerzenden Muskeln und die unterschwellige Übelkeit erinnerten mich an den gestrigen Abend und mein neuestes Problem, doch für den Moment vergrub ich das Gesicht in meiner dampfenden Tasse. In diesem Zustand würde ich keine Lösung finden.

Avna, die Edwin lauthals angemeckert hatte, schüttelte nun den Kopf und stampfte dampfend aus der Küche. Wenige Sekunden später hörte man Wasser in einer Dusche laufen.

Der Vampir seufzte schwer, bevor er sich eine frische Tasse Kaffee schnappte und am Tisch niederließ.

„Was war das?", fragte ich vorsichtig nach.

„Ich sollte nicht hier sein."

Genauso kryptisch wie man es von Vampiren erwartete. „Was meinst du?"

Er sah mich müde an, bevor er den Kopf schüttelte. Aus ihm war nicht mehr herauszubekommen.

Mit Schwung verfrachtete ich das Kaffeehäferl in die Abwasch und schnappte mir meine Tasche, die noch neben der Tür lag. Ups.

„Edwin?" Er schreckte von seiner Tasse hoch, in die er tiefer und tiefer gesunken war. Ich hatte mich beim Anblick meiner schmuddeligen Tasche wieder an Lysanders Worte erinnert. „Gibt es Regeln für die WG? Einen Putzplan oder irgendetwas, das ich wissen sollte?"

Der Vampir wirkte für einen Moment verwirrt, bevor er sachte den Kopf schüttelte. „Es gibt keine offiziellen Regeln."

„Und inoffizielle?"

Er schien einen Moment zu überlegen. „Meide Avna, wenn sie dampft. Am besten meidest du auch Lysander. Seine Freunde sind zu laut."

Mit einer Mischung aus Belustigung und Verwirrung bedankte ich mich für seine Tipps, bevor ich mir den Riemen meiner Tasche über die Schulter zog. Ich sollte mich also von allen fernhalten? Edwin schien seine eigenen Ratschläge bestens zu befolgen – soweit es ihm möglich war.

Hastig schlüpfte ich im Eingangsbereich in meine Sneaker, bevor ich einen Blick zurückwarf. Edwin bewegte sich nicht. Einer Marmorstatue gleich harrte er an der Theke aus; nicht einmal seine Brust hob und senkte sich.

„Musst du gar nicht los? Ich bin schon spät dran für die erste Stunde."

„Nein", entgegnete er und ich fragte mich, ob ich mir die Schärfe in seiner Stimme einbildete. „Ich muss nirgendwohin."

Zeit dafür, mich mit seiner merkwürdigen Laune zu beschäftigen, hatte ich keine; ich winkte noch, bevor ich aus der Tür lief. Frühstück würde heute ausfallen, wenn ich es vor dem Läuten in den Kurs schaffen wollte.

#

Ich war gleichzeitig mit der Glocke in den Unterricht geschlüpft und hatte mich in der hintersten Reihe neben eine Waldalbin fallen lassen, deren Haar im Sonnenlicht in der Farbe von reifen Himbeeren leuchtete. Sie lächelte mir freundlich zu, bevor sie sich ihren Unterlagen widmete.

„Einen guten Morgen!"

Der Ruf des Professors schallte durch den Raum und ich bemühte mich darum, meine Aufmerksamkeit an die Tafel zu richten. Doch die Müdigkeit saß tief in meinen Knochen und ich konnte meine Augen nicht offenhalten; jemand musste Tischbeschwerer an meine Lider geheftet haben. Nicht lange nach Beginn der Einheit tippte meine Sitznachbarin mich an der Schulter an.

„Geht es dir nicht gut? Ich kann dem Professor Bescheid geben, dass du ins Krankenzimmer musst", bot sie an.

Ich schnitt eine Grimasse. Wie ich wohl aussehen musste, um das gefragt zu werden? „So schlimm ist es nicht, ich habe bloß schlecht geschlafen."

Sie nickte verständnisvoll, bevor sie sich wieder ihren Notizen zuwandte.

Natürlich wusste ich, dass mein Problem nicht nur der Schlafmangel war. Unwillkürlich kam mir der Hotelbesitzer in den Sinn. Ich musste etwas unternehmen, aber der Blick, mit dem er mich gestern versehen hatte – als ob ich ein Forschungsobjekt wäre – verursachte mir rückblickend Übelkeit.

Als es endlich zur Pause läutete, packte ich in Rekordgeschwindigkeit meine Sachen zusammen. Der Weg zum Gewächshaus, in dem Botanik stattfand, würde mir eine Ausrede geben, um mich an der frischen Luft zu bewegen. Die Flure verschwammen zu einem weißen Brei, während ich den Ausgang suchte, und ich begann zu vermuten, dass das flaue Gefühl in meinem Magen weniger mit Lysanders Verhalten und mehr mit meinem körperlichen Zustand zu tun hatte. Erleichtert sog ich die kühle Oktoberluft ein, als ich das Hauptgebäude hinter mir ließ und Fuß auf den gekiesten Vorplatz setzte.

Als ich angekommen war, hatten meine Nerven mir keine Chance gegeben, mich draußen umzusehen. Ich drehte mich einmal um mich selbst, um einen Überblick zu gewinnen und das Gewächshaus zu finden. Die flachen Wiesen, die sich bis an die Baumgrenze in der Ferne erstreckten, waren gepflegt. Graue Kieswege teilten die grünen Flächen, um die Studenten auf ihren Wegen zu den Nebengebäuden zu leiten. Links von mir ragte der alte Schulteil mit seinen moosigen Steinwänden auf; im Kontrast dazu war der Neuanbau von klaren Linien und Glasflächen gezeichnet. Das Flair einer schottischen Spukburg mischte sich mit der Modernität eines zweckmäßigen Schulgebäudes.

Selbst das Gewächshaus war ein Ziegelklotz, auf den unbeholfen ein zweites Stockwerk aus Glas gesetzt worden war. Beim Näherkommen wurden grüne Ranken und Blätter erkennbar, die sich gegen die Wände des oberen Stocks pressten. Die schmale Holztür am Ende des hellen Kiesweges stand weit offen und das Geplauder anderer Schülern drang nach draußen. Kurzerhand folgte ich den Stimmen, überzeugt, dass ich das Gewächshaus gefunden hatte.

Es roch im Inneren nach feuchter Erde und Dünger. Der Holzboden unter meinen Füßen bestand aus unebenen Planken, die man in den weichen Erdboden gedrückt hatte. Eine andere Welt, dachte ich, da ich den Raum unweigerlich mit dem sterilen Inneren der Akademie vergleichen musste.

Die warm gekleideten Schüler sammelten sich um schwere Eichentische, die voller Kerben und Erdbrocken waren. Das musste der einzige Raum sein, der nicht penibelst staubfrei gehalten wurde. Ich stellte mich zwischen die anderen und war froh, dass unsere Körperwärme den Raum aufzuwärmen begann. Zumindest hielt mich die Kälte für den Moment davon ab, in einer Ecke zusammenzusinken und die Augen zu schließen.

Erhebliche Zeit nachdem das entfernte Klingeln der Schulglocke zu hören gewesen war, rauschte eine großgewachsene, magere Frau herein; die Haare hatte sie zu einem schlampigen Knödel hochgesteckt. Auf ihrer schmalen Nase saß eine schiefe Brille mit Silbergestell. Sollte das unsere Professorin sein?

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, trafen sich unsere Blicke über einem Stapel Tontöpfe und sie lächelte mir breit zu.

„Sind wir vollzählig?", fragte sie in die Runde. Sie schien weder eine analoge Namensliste noch einen Laptop bei sich zu tragen. „Falls es Nachzügler gibt, weist mich bitte darauf hin, wenn ich sie nicht bemerke. Aber fürs Erste sollten wir wohl beginnen, nicht wahr?"

Ihr Blick glitt über die Schüler an den Tischen. „Ich erkenne einige Gesichter aus dem letzten Semester wieder, das freut mich zu sehen. Für diejenigen, die mich nicht kennen: Ich heiße Anthemis und unterrichte seit wirklich sehr vielen Jahren Botanik an der Akademie. Bei mir gibt es keinen Stuss wie Prüfungen oder eine Anwesenheitspflicht. Mir ist nur wichtig, dass ihr das, was ihr tut, mit Begeisterung und Köpfchen angeht."

Die Schüler schienen ihr eine gewisse Wärme entgegenzubringen; zumindest verdrehte keiner die Augen, als sie in der Sekunde darauf über einen Bewässerungsschlauch stolperte.

„Frau Professor, wir machen in der ersten Stunde doch sicherlich keine Theorie, oder?", meldete sich eine dünne Stimme. Die Lehrerin schrumpfte unter dem Hundeblick der Studentin zusammen.

„Äh ... also ... wir sollten eigentlich ...", begann sie zu stammern, bevor sie sich anders zu entscheiden schien. „Aber das kann vermutlich warten. Probieren geht übers Studieren, nicht wahr?"

Zustimmendes Gegröle von den Eichentischen.

„Also los, ab nach oben mit euch und ich möchte euch bis zu den Ellbogen im Dreck sehen!"

Alle strömten in Richtung der hölzernen Wendeltreppe, die aus dem erdigen Loch führte, welches das gedrungene Erdgeschoss darstellte. Ich reihte mich am Ende der Schlange ein und folgte ihnen vorsichtig über die erdigen Stufen ins obere Stockwerk.

Dort erwartete uns ein wahrer Dschungel. Von außen hatte man die Menge der Pflanzen erahnen können, aber nicht ihre Vielfalt. Beim Anblick der bunten Blumen und großblättrigen Gewächse, die sich auf dieser Etage tummelten, überkam mich ein Fünkchen Sehnsucht nach Zuhause. Die Gemeinschaft war kein Alfheim; dennoch hatten unsere Vorfahren eine Handvoll Erde und Samen mit ins Exil gebracht. Vor allem die Seelenbäume könnte ich auf der Akademie gut gebrauchen. Dank der Energie, die sie abgaben, hätten sich alle meine Probleme in Luft aufgelöst.

Das Glasdach hatte das obere Stockwerk aufgeheizt und während sich alle ihrer Jacken und Westen entledigten, kehrte das Blut in meine Finger zurück. Einige Studenten schnappten sich kichernd und tratschend Gießkannen, während andere mit dem Transport von Werkzeug und Handschuhen ins Obergeschoss beschäftigt waren. Vor mir erstreckten sich vier bepflanzte Bahnen, deren bunter Inhalt kräftige Aromen verströmte. Manche der Gewächse kamen mir bekannt vor, andere hatte ich noch nie gesehen; weder in der Gemeinschaft noch unter den Menschen.

Anthemis wedelte mit einem Paar Handschuhe, um die Aufmerksamkeit der unbeschäftigten Schüler auf sich zu lenken.

„Schön, dass ihr euch für meinen Botanik-Kurs entschieden habt. Letztes Semester haben wir den biologischen Aspekt durchgenommen, aber ihr habt euch dafür qualifiziert ihn zu überspringen und seid bei den praktischeren Jahrgängen gelandet. Wir lernen hier Kräuter und Gewächse für ihre heilende Wirkung kennen und erproben auch ihre Aufzucht. Jeder von euch wird eine besondere Pflanze zugeteilt bekommen, die er pflegen und am Ende des Kurses vorzeigen wird, um Feedback zu erhalten. Natürlich beobachte ich zwischendurch euren Fortschritt", kündigte sie grinsend an und hüpfte zu einem kleinen Bastkorb, in den eine Unmenge an Anzuchttöpfen gequetscht worden war. Die Pflanzen darin waren wenige Zentimeter hoch.

Sie begann sie auszuteilen und die Schüler streckten folgsam ihre Hände danach aus. „So, eines für jeden von euch. Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr jederzeit zu mir kommen, aber auch in der Bibliothek gibt es viele Informationen zu euren neuen Schützlingen."

„Und welche Pflanzen sind es?", wollte eine Albin wissen, die mit blankem Gesicht auf den Anzuchttopf in ihren Händen starrte.

Anthemis zwinkerte. „Sieht so aus, als hättest du deine erste Aufgabe für meinen Kurs gefunden. Aber keine Sorge; ihr könnte sie alle unbesorgt in einem der Tröge hier einpflanzen. Im Allgemeinen sind es schnellwachsende Sorten. Bei manchen wird es länger dauern, bis sie unterscheidbare Merkmale entwickeln, aber eure Note hängt auch nicht von der Geschwindigkeit ab, mit der ihr die Lösung findet."

Ohne nähere Erklärung wanderte sie mit dem Körbchen zu den anderen Studenten weiter und ich drehte meinen kleinen Topf in meinen Händen. Was fing ich nun damit an? Die verwirrte Studentin und ich standen wie angewurzelt nebeneinander, den Blick auf den Sprössling in unseren Hände gerichtet, bis eine kräftige Stimme uns aufschrecken ließ.

„Braucht ihr Hilfe mit euren Geschenken, Neulinge?", fragte sie, während sie uns provokant anfunkelte.

Ich blinzelte das Mädchen aus der ersten Stunde überrascht an. Das Himbeerrot ihrer Haare leuchtete im Sonnenlicht und ohne ihren Cardigan war eine lange Linie, die sich um ihren Oberarm schlang, entblößt. Auf den zweiten Blick erkannte ich in der Linie ein feines Rankenmuster, das mit heller Tinte in die Haut gestochen worden war.

„Lasst mich euch die Grundlagen erklären. Folgt mir und achtet darauf, über keine Wurzeln oder Gartenschläuche zu stolpern!", mahnte sie mit einem jungenhaften Grinsen.

Dank ihrer Anweisung schafften wir es, unsere Samen ordnungsgemäß einzutopfen und ich stellte meinen Topf an eine halbschattige Stelle zwischen einem weißen Rosenstrauch und prächtigen Pfingstrosen, um ihn später wiederzufinden.

#

Zu Mittag traf ich Temis und Cassia im Speisesaal. Die beiden Sukkuben verstanden sich ein wenig zu gut; nach einer knappen Viertelstunde hatte ich das Gefühl, nicht länger mithalten zu können. Während ich dem Gespräch der beiden stumm beiwohnte, überlegte ich, wie die beiden unser gemeinsames Problem regelten. Keiner der beiden war für längere Zeit der Gemeinschaft ferngewesen, bevor sie an der Akademie gelandet waren. Aber als ich sie nach ihrer Strategie fragte, lachten sie beide los und Temis spuckte beinahe ihr Mittagessen über den Tisch.

„Du bist umgeben von Energie", stellte Cassia kopfschüttelnd fest. „Nimm dir was du brauchst. Ich kann dir ein paar Leute vorstellen, die mir geholfen haben."

Auch Temis wirkte überrascht davon, dass ich mit mir kämpfte. „Ohne die Seelenbäume können wir nicht auf uns allein gestellt überleben. Das muss dir bewusst gewesen sein, bevor du hergekommen bist, Erys."

Ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich alles getan hätte, um nicht an meine Großeltern und dem inneren Kreis gebunden zu bleiben, also entschied ich mich für eine vage Antwort. „Natürlich wusste ich das. Ich dachte nur nicht, dass es so hart sein würde. Zwischen den Menschen war es ... anders. Wochenends war ich zurück in der Gemeinschaft."

„Anders? Egal, aber du solltest dir schnellstens eine Lösung für deinen Zustand finden. Du wirkst schwach", meinte Cassia mit einem Unterton, den ich beinahe für Besorgnis gehalten hätte. „Wir würden dir helfen, aber du weißt –"

„Ich kann von euch keine Energie nehmen, ich weiß."

Temis machte ein nachdenkliches Gesicht. „Was ist mit deinen Mitbewohnern?"

Nein. Nein, das könnte ich nicht von ihnen verlangen. Ich kenne sie kaum." Ich kenne hier niemanden und genau das ist mein Problem, fügte ich im Stillen hinzu.

„Vielleicht stört es sie nicht, dein menschlicher Infusionsbeutel zu sein", hielt Cassia entspannt dagegen. „Dieser Meermensch, Lysander. Er könnte sich über die Gelegenheit freuen, etwas Körperkontakt mit dir abzustauben."

„Bitte nicht Lysander", stieß ich aus, bevor ich mich beherrschen konnte.

„Oh?" Cassia grinste wie eine Katze, die Sahne geschleckt hatte. „Gibt es etwas, dass du uns erzählen möchtest?"

Mein Blick musste Bände gesprochen haben, denn sie hob verteidigend die manikürten Hände. „Schätzchen, du kannst dich wehren, wie du willst, aber du bist gerade unsanft aus deiner Illusion erwacht. Deswegen ist und bleibt die Gemeinschaft der beste Ort für uns Nachtalben."

Der Rest der Mittagspause verschwamm in meinem Kopf zu einem grauen Einheitsbrei. Als ich es schließlich nicht mehr aushielt und aufstand, spürte ich Cassias und Temis Blicke auf mir liegen. Vermutlich sah ich aus, als würde ich jederzeit in mich zusammenfallen.

„Ich fühl mich nicht so gut, ich will an die frische Luft", brachte ich heraus, bevor mein Sichtfeld gefährlich zu flackern begann. Mir war so schwindelig, dass der Boden von links nach rechts zu schwappen schien, und ich klammerte mich an die Lehne meines Stuhls.

Wie aus weiter Ferne hörte ich Stimmen, aber ich konnte nicht antworten. Vergebens wartete ich darauf, dass das Gefühl der Seekrankheit abebbte. Für einen Moment klärte sich meine Sicht und ich machte einen wackeligen Schritt nach vorne, um mich wieder zu setzen, aber die Kraft in meinen Beinen verließ mich. Ich konnte mich für einen letzten Moment am Stuhl abstützen, bevor alles schwarz wurde.

#

Eine weibliche Stimme drang durch den Nebel in meinem Bewusstsein. Sie schien sich nicht an mich zu richten. „Glaubt ihr, es ist, weil sie ... naja ... ihr wisst schon. Wegen dieser Nachtalbensache – ihrer Energie?"

„Möglicherweise", erwiderte eine andere Person kühl.

Eine dritte, männliche Stimme schaltete sich ein. „Fragen wir sie doch einfach. Sie wacht auf."

Vorsichtig schlug ich die Augen auf. Die besorgten Gesichter meiner Mitbewohner hingen über mir – nur Edwin hatte respektvoll Abstand zu dem weiß überzogenen Bett gehalten, in dem ich mich befand. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel und nassem Gips.

„Wo bin ich?", murmelte ich mit trockener Kehle, während ich versuchte, mich aufzurichten. Fühlte sich an, als hätte ich einen Ganzkörpermuskelkater.

Avna schlug mir in einer jovialen Geste gegen den Arm und ich zuckte vor Schmerz zusammen. „Du bist im Krankenzimmer, aber du wirst wieder."

„Großartige Arbeit, Avna", mahnte Lysander, ohne mich anzusehen. „Kann sein, dass sie deine Gewalt erträgt, wenn sie bei Kräften ist, aber im Moment ist das anders. Sie muss sich schonen."

„Ist schon okay." Das Letzte, das ich gerade gebrauchen konnte, war ein Streit, in den ich verwickelt wurde.

Insgeheim fragte ich mich, wie Lysander mit solchem Selbstbewusstsein über meine Art sprechen konnte. Das Meervolk war mit den Nachtalben auch nicht vertrauter als die Lichtalben es waren.

Avna schenkte ihm einen langen Blick, in dem mehr als tausend Worte lagen. In ihren Augen glomm ein schwaches Feuer.

„Die Schulärztin sollte gleich wiederkommen", erklärte sie mir, anstatt Lysander zu antworten, und blickte sich mit Abscheu um. „Sie ist eine Hexe."

„Es gibt keine Hexen", korrigierte Edwin sie sachlich.

Sie funkelte ihn an. „Es gibt aber die geläufige Beleidung einer nervigen Schulärztin als Hexe."

„Das sagst du nur, weil sie dir in den letzten Semestern dreimal einen Gips anlegen musste", schaltete sich Lysander grinsend ein und ich stieß frustriert die Luft aus. Konnten die beiden ihre Kabbeleien nicht ein einziges Mal lassen?

„Okay, okay. Es reicht. Ihr habt gesehen, dass es mir gutgeht, also bitte – geht jetzt."

Ich dachte schon, den Besuch überstanden zu haben, aber Lysander folgte Edwin und der dampfenden Avna nicht. Am Kopfende aufgebaut, blickte er auf mich hinunter. Es herrschte für einen Moment Stille, bevor er aufseufzte.

„Solltest du dir nicht Energie besorgen, wenn es dir so dreckig geht?", fragte er. In seinem Unterton schwang eine stumme Anschuldigung mit.

„Danke für die Info – das wusste ich gar nicht über meinen eigenen Körper."

Ich war nicht mit Absicht grob, aber im Moment konnte ich mich kaum beherrschen. Wenn mir jemand erzählt hätte, wie furchtbar der Energiemangel sein würde, dann hätte ich mit eigenen Händen einen Seelenbaum der Gemeinschaft ausgegraben und in meinem Koffer über die Grenze geschmuggelt.

Lysander hob eine Augenbraue, aber erwiderte nichts auf meine Worte. „Kannst du aufstehen?"

„Was? Oh, klar. Mir geht es wieder halbwegs." So sicher war ich mir gar nicht, aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen.

Schwungvoll entledigte ich mich der Decke und stellte die Beine auf den Boden. Wenigstens trug ich noch mein Gewand; sogar die Schuhe hatte man mir im Bett angelassen. Meine Tasche lag am Boden und ich beugte mich eilig zu ihr hinunter. In der Mitte der Bewegung musste ich mich am Bettgestell festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Durch Zauberhand löst sich mein Zustand nicht, erinnerte ich mich, aber ich hatte gerade keine Kraft dafür, mir Sorgen zu machen. Wackelig auf den Beinen, aber umso entschlossener stakste ich zur Tür. Lysander folgte mir auf den Fersen, als würde er damit rechnen, dass ich umfiel.

Ich konnte seine neugierigen Blicke auf mir spüren. Ob er an gestern Abend denken musste?

„Sicher, dass du keine Hilfe brauchst? Ich könnte -"

Bingo. „Nein, es geht schon. Ich möchte nur zurück in die WG und meine Ruhe haben."

Ich zog seinen Eifer der Abscheu anderer Lichtalben vor, aber er gab mir das Gefühl, ein ausgestopftes Tier im Museum zu sein, das von den Besuchern angestarrt wurden. An der Tür angekommen drehte ich mich um, in der festen Absicht, mit ihm darüber zu sprechen.

„Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich bin erwachsen, genau wie du; wenn ich etwas brauche, werde ich es dir sagen. Aber zuerst möchte ich versuchen, das Problem auf meine eigene Art zu lösen."

Er blinzelte mich überrascht an. „Du willst also keine Hilfe annehmen?"

„Nicht, wenn es anders gehen sollte. Du weißt nicht, wie es ist, von der Energie anderer Lebewesen abhängig zu sein." Frustriert brach ich ab, weil sich kein Verständnis auf seinem Gesicht zeigte. „Vergiss es einfach."

Er suchte offensichtlich nach den richtigen Worten und hatte keinen Erfolg. Solange er verstanden hatte, dass ich Zeit und keine Hilfe brauchte, war alles gesagt.

„Ich bin überrascht, dass ihr alle hier wart. Hatte der Hotelbesitzer denn keine Gäste zu versorgen?", begann ich locker, doch sein eindringlicher Blick ließ mich abbrechen. „Was ist los?"

„Du bist zu höflich. Ich biete dir meine Hilfe nicht ohne Hintergedanken an, das muss dir bewusst sein."

Verlegen sah ich zur Seite. Ich war nicht schwer von Begriff; ich verstand durchaus, was er damit sagen wollte. Unwillkürlich ploppte Cinnaes angestrengtes Lächeln in meiner Erinnerung auf. Mich auf Lysanders Angebot einzulassen, wäre eine praktische Lösung – aber ich ahnte bereits, dass ich mir damit weitere Probleme einbrocken würde.

„Wie gesagt, ich schaffe –"

Aber seine Lippen auf meinen verhinderten, dass ich weitersprechen konnte. Ich brauchte eine Sekunde, um zu verarbeiten, was passierte. Lysanders Energie strömte durch die Berührung und die Kraft kehrte in meine Beine zurück; aber gleichzeitig fühlte sich nichts an dem Kuss richtig an.

„Spinnst du?" Einen Atemzug später drückte ich gegen seine Brust, um Abstand zwischen uns zu bringen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meinen Kopf in eiskaltes Wasser zu tauchen. „Was denkst du dir?"

„Ich wollte nur helfen."

Fassungslos sah ich ihn an. „Helfen? Gerade eben habe ich dir gesagt, dass ich damit allein fertigwerde."

„Und wie willst du das anstellen an einer Schule voller Lichtalben? Keiner von denen will in die Nähe deiner Magie kommen." Ich hätte ihm am liebsten das selbstsichere Grinsen vom Gesicht gewischt. „Aber das war überraschend; du hast einiges an Selbstkontrolle. Als ich über euch gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass es dir schwerer fallen sollte. Zumindest in deinem Zustand."

Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten. Als ich über euch gelesen habe.

„Sei nicht sauer – ich wollte nur testen, ob .."

Meine Hand an seiner Wange unterbrach ihn. Das Geräusch der Ohrfeige hallte in dem hohen Raum nach und er griff überrascht nach der geröteten Stelle.

Mindestens genauso erschrocken wie er sah ich meine Rechte an, die unangenehm prickelte. Eine Entschuldigung brachte ich jedoch nicht über die Lippen.

Vor Wut kochend stürmte ich aus dem Krankenzimmer und während ich die weißen Flure entlanglief, freute ich mich kein bisschen über die Abwesenheit des Schwindelgefühls.

#

Eine halbe Stunde später hatte ich in die Wohnung gefunden, nachdem ich zwei Studenten nach der Richtung gefragt hatte. Zumindest hatte der ausgedehnte Spaziergang dazu geführt, dass ich Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Meine Einstellung Lysanders Hilfe gegenüber hatte sich nicht geändert; ich wünschte mir die Einsicht von ihm, dass er zu weit gegangen war.

Genau wie du, sagte ich mir selbst im Stillen. Ich hätte ihn nicht schlagen sollen, auch wenn mir in dem Moment nichts anderes eingefallen war.

Ich öffnete die Apartmenttür und entgegen kam mir Avna, die Stirn in Falten gelegt. Sie ließ gar nicht erst zu, dass ich die Wohnung betrat, und ich hielt verlegen auf der Türschwelle inne.

„Ich hatte früher mit dir gerechnet. Wurdest du aufgehalten?"

Ich wiegte den Kopf, um einer klaren Antwort zu entkommen. Was sollte ich ihr schon sagen? Am besten ich behielt die Angelegenheit erstmal für mich; zumindest so lange, bis Lysander und ich eine Gelegenheit zum Reden gehabt hatten.

Die Schluchten auf Avnas Stirn glätteten sich. Für einen Moment wirkte es, als wollte sie mich in eine Umarmung ziehen, bevor sie sich zurücknahm. Unwillkürlich musste ich an Lysanders Worte im Krankenzimmer denken: Keiner von denen will in die Nähe deiner Magie kommen.

„Fühlst du dich bereit für das Abendessen?"

„Abendessen?", wiederholte ich ihre Worte leise. Ich hatte kaum zu Mittag gegessen und keine Zeit für ein Frühstück gehabt, aber nun, wo mein Energieproblem fürs Erste gelöst war, kehrte mein Appetit zurück und bei der Vorstellung von einer warmen Mahlzeit lief mir das Wasser im Mund zusammen.

„Du solltest zumindest Nahrung zu dir nehmen." Wir wussten beide, dass sie sich den Zusatz: Wenn du schon keine Energie bekommst, dachte.

Mein Magen stimmte ihrer Idee eifrig zu und Avna lachte über das Gegrummel, bevor sie mich auf den Gang zurückzudrängen begann. Kaum, dass wir die WG-Tür hinter uns geschlossen hatten, rannten zwei Mädchen an uns vorbei. Eine von ihnen schaffte es nicht mehr rechtzeitig mir auszuweichen und unsere Schultern krachten zusammen. Ihre atemlos hervorgebrachte Entschuldigung brauchte ich nicht zu erwidern, da sie bereits weitergelaufen war.

„Was war das denn? Hat sie keine Minute Zeit, um sich ordentlich zu entschuldigen?", meckerte Avna, die mit ihren flammenden Blicken Löcher in den Rücken der fremden Schülerin brannte. „Wohin wollen die?"

Ich massierte meine stechende Schulter. „Keine Ahnung, aber ich habe das Gefühl, wir laufen in dieselbe Richtung."

Die Neugierde ließ uns nicht los, also folgten wir ihnen eilig. Vor der Speisehalle war ein gewaltiger Auflauf aus Schülern und Lehrern entstanden, der den Gang zu verstopfen drohte. Avna und ich wechselten einen besorgten Blick. Was ging hier vor?

Als wir uns durch die Menge vorwärts drängten, konnten wir nicht länger übersehen, was den Aufruhr verursacht hatte. Avna zog scharf die Luft ein und ich spürte meinen Magen rebellieren. Die Studenten hatten einen großen Kreis um die Lacke auf der Türschwelle gebildet, die im Kunstlicht dunkelrot glänzte. Darüber baumelte ein schlaffer Körper von einem Seil an der Decke, mit zurückgerolltem Kopf. Aus dem Schnitt an der Kehle tropfte frisches Blut auf den glänzenden Marmor unter ihr und vermengte sich mit dem zähen Dunkelrot der Lacke.

Avna und ich waren nicht die einzigen Neuankömmlinge unter den Zuschauern und ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie einige der Vampire diskret wegtraten oder sich Taschentücher vor den Mund hielten. Ich selbst stolperte mit zittrigen Beinen ein paar Schritte zurück. Mein erster Reflex war es zu laufen, aber unerklärlicherweise bewegte sich mein Körper keinen Zentimeter weiter. Die Szene vor mir hielt meine volle Aufmerksamkeit gefangen.

So schrecklich wie der Anblick war, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass er nicht echt war. Womöglich handelte es sich um einen blöden Scherz und die Albin würde in den nächsten Minuten von der Decke steigen, ihre tauben Gliedmaßen ausschütteln und über das Entsetzten ihrer Zuschauer lachen. Doch mit jeder Sekunde, die verstrich, sickerte die Erkenntnis tiefer ein, dass es sich nicht um einen kruden Spaß handelte. Was wir sahen, war eine tote Studentin, die wie zum Ausbluten aufgehängt worden war. Die himbeerroten Haare, die ihr matt über die hängenden Schultern strömten, verbargen nicht die weißen Ranken an ihrem Oberarm, und die Übelkeit in mir wuchs.

„Ach du Schande", murmelte Avna leichenblass. Ihr Blick folgte den fallenden Tropfen, obwohl ihr deutlich ins Gesicht geschrieben war, dass sie sich gerne abgewandt hätte. „Das ist eine Studentin. Ich bin ihr ab und an am Flur begegnet."

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