Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen, wie viele Gläser Alkohol ich schon geleert hatte. Normalerweise trank ich immer nur ein oder zwei Gläser Sekt, aber heute hatte es mich total überkommen.
Es war so, als würde die brennende Flüssigkeit mir all meine Sorgen abnehmen. Auf einmal fühlte ich nicht mehr diese unglaubliche Last auf meinen Schultern. Ich fühlte mich so, als würde ich fliegen.
»Noch ein Glaaas!«, forderte ich den Barkeeper auf und donnerte den leeren Becher auf den Tresen.
Er musterte mich nachdenklich. »Ich glaube, das reicht für heute«, meinte er schließlich und wandte sich anderen Jugendlichen zu.
»Aber ich brauch noch meeehr!«, heulte ich und schlug mehrmals mit den Fäusten auf den Tresen.
»Allyson?«, hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme fragen. Mit dröhnendem Schädel drehte ich mich um und erblickte den Jungen, dem ich heute zu wenig Beachtung geschenkt hatte
»Jayden!«, lallte ich fröhlich und sprang von meinem Hocker. Doch das erwies sich als keine gute Idee. Schwankend wollte ich mich irgendwo festhalten, landete jedoch direkt auf dem dreckigen Boden. Alles drehte sich.
Sofort bückte sich Jayden zu mir herunter. »Ach, du scheiße! Wie viel hast du getrunken?«, fragte er mich entsetzt. Seine grünen Augen musterten mich besorgt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Beim achten Glas hab isch aufgehört zu zähl'n!«, berichtete ich stolz und streckte ihm zehn Finger entgegen.
»Ich glaube, wir sollten gehen.« er schüttelte den Kopf.. Mit einer einfachen Bewegung zog er mich wieder auf die Beine und dann hinter sich her. Mit Mühe torkelte ich ihm nach.
Draußen angelangt blieb er plötzlich stehen. »Ach, verdammt!«, fluchte er, »Ich bin ja gar nicht mit dem Auto da! Das hatte ich vollkommen vergessen!« Verzweifelt sah er mich an. Er war süß, wenn er sich Sorgen machte.
»Kein Problem!«, kicherte ich benommen und fiel Jayden direkt um den Hals.
Überrascht erwiderte er meine Umarmung. »Ich will eh nich nach Haus! Ich bleib vieeel lieber bei dir«, nuschelte ich in seine Halsbeuge.
Mein Verstand drehte völlig durch. Auf einmal sagte ich Dinge, die ich im nüchternen Zustand niemals so von mir gegeben hätte. Der Alkohol schmiss jegliche Vernunft über Bord.
Als ich in seine wunderschönen, olivgrünen Augen blickte, hatte ich plötzlich das Verlangen, Jayden zu küssen. Er war im Vergleich zumindest ehrlich gewesen, was seine Eroberungen anging.
Er sah es anscheinend genauso. Ich merkte, wie er mir immer wieder auf die Lippen starrte. Aber er schien gegen seinen Drang anzukämpfen, denn er drückte mich von sich weg. Das machte mich aber nur noch heißer.
»Komm, schon!«, lallte ich, »Du wolltescht mich doch schon immer mal küssen!« Ich kicherte wie eine Verrückte und legte meine Arme um seinen Hals.
Jayden kniff die Augen zusammen. »Scheiße, Ally, du bist betrunken!« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht tun.«
Ich klimperte mit den Wimpern und zog ihn näher an mich heran. Davon träumte er doch bestimmt seit einer Ewigkeit. Er sollte mich einfach küssen.
Kurz zögerte Jayden noch, dann presste er endlich seine Lippen auf meine.
Bis hatte immer gedacht, dass wenn man sturzbetrunken war, man vollständig die Kontrolle über seinen Körper verlieren würde. Dass man im Prinzip ein Körper mit nichts weiter als Trieben war, keine Vernunft, keinen Verstand, nichts. Doch da hatte ich mich wohl geirrt. Denn mitten im Kuss merkte ich, dass ich Jayden gar nicht auf diese Weise mochte.
Sofort sprang ich zurück und versuchte schwankend das Gleichgewicht zu halten. Ich wollte ihn nicht küssen. Am besten gar keinen Kerl in der nächsten Zeit. Dannys mieses Spielchen frustrierte mich immer noch. Ich war verwirrt und durcheinander.
Auf Jaydens Lippen schlich sich urplötzlich ein Grinsen. »Komm schon, Allyson!«, lachte er mich an und kam mir immer näher, »Gerade wurde es doch erst so richtig interessant!«
Keuchend hielt ich mir den Schädel. Seine Worte drangen nur stückchenweise zu mir hindurch. Plötzlich löschte er die letzten paar Zentimeter zwischen uns aus und legte erneut seine Lippen auf meine.
Widerwillig drückte ich ihn von mir weg. Doch der Alkohol hatte mich so sehr geschwächt, dass ich keinen Widerstand leisten konnte.
Als er mir plötzlich wilde Küsse auf dem Hals verteilte, brachte ich nur ein hilfloses Piepen über die Lippen.
Wie eine Marionette ließ ich alles über mich ergehen und schloss verzweifelt die Augen.
Jaydens Küssen wurden von Sekunde zu Sekunde gieriger. Ich hatte das Gefühl zu sterben.
Doch dann ließ er plötzlich von mir ab und ich nahm sein schmerzhaftes Stöhnen wahr.
Benommen schlug ich die Augenlider auf und sah zu Boden, wo Jayden zusammengekrümmt lag.
»Passiert dir Reeecht!«, lallte ich und trat zu, woraufhin er erneut das Gesicht vor Schmerzen verzog.
Plötzlich spürte ich, wie mir jemand die Hände von hinten um die Taille legte. Kichernd strich ich der unbekannten Person über die Hände.
»Danke!«, summte ich plötzlich wieder fröhlich vor mir hin und wollte mich umdrehen. Doch der Typ, der mich hielt, ließ es nicht zu, was mich noch neugieriger machte.
»Ich steh auf mischteriöse Typen!«, kicherte ich vor mich hin.
Die Freude verging mir, als er mich an der Taille packte und über seine Schulter warf. Mein Kopf drohte zu explodieren drohte und mein Mittagessen wollte sich wieder melden.
»Lass mich runter!«, quiekte ich mit hochrotem Kopf und starrte auf den Bordstein, über dem ich taumelte.
Doch der Typ lief einfach stumm weiter. Mit jedem Schritt wurde die Musik aus dem Club leiser. Angestrengt versuchte ich den Kopf anzuheben und irgendetwas zu erkennen, doch alles drehte sich. Und dann geschah es: Ich musste brechen.
Sofort ließ mich der Typ runter. Mit gekrümmten Rücken spukte ich alles auf den Bürgersteig. Mir war so unglaublich übel. »Ich will nach Hause!«, krächzte ich mit verkrampftem Magen und starrte auf mein Erbrochenes.
Sofort half mir der Typ auf, woraufhin ich seine äußerst männlichen Gesichtszüge erkennen konnte. Sein braunes Haar war unter einer schwarzen Mütze versteckt.
War das Josh?
Er zog mich viel zu schnell hinter sich her. Heftig torkelte ich. Wollte er, dass ich mich erneut übergab? Ich stöhnte auf und versuchte mich auf ihn zu konzentrieren, aber irgendwie sah ich alles doppelt und dreifach.
Er lief auf einen Wagen zu. Mein Hirn brauchte leider viel zu lange, um zu registrieren, dass es sich um einen schwarzer Van handelte.
Augenblicklich überflutete meinen Körper eine Welle von Panik. Auf einmal läuteten alle Alarmglocken. »Lass misch los!«, schrie ich und versuchte mich von ihm loszureißen.
Doch der Mann zog mich gegen meinen Willen hinter sich her und donnerte mich schließlich mit dem Kopf voran gegen seinen dunklen Wagen.
Sofort durchbrach ein stechender Schmerz meinen Schädel. Meine Sicht war mit einem Schlag verschwommen. Stöhnend versuchte ich mich irgendwo festzukrallen, doch ich sackte einfach zu Boden.
Alles drehte sich. Ich war nicht mehr in der Lage aufzustehen. Mein Blickfeld wurde von Sekunde zu Sekunde undeutlicher. Mein Schädel dröhnte.
Plötzlich hörte ich einen Knall. Fast schon wie der Schuss einer Pistole. Oder war es doch nur eine Autotür, die zugeknallt wurde?
Ich wusste es nicht. All meine Sinne versagten. Das Einzige, was ich wirklich wusste, war, dass ich in mächtigen Schwierigkeiten steckte.
Plötzlich erhob sich ein großer Schatten über mir. Die Konturen verschmelzten mit der Dunkelheit. Ich spürte ein unfassbar schweres Gewicht, welches sich auf mich stemmte.
Keuchend stöhnte ich auf und versuchte nach Luft zu schnappen. Doch die Person, die sich auf mich gesetzt hatte, nahm mir die Luft zum Atmen. Mit einem Wimpernschlag fielen mir die Augenlider zu.
Doch das war noch lange nicht das Schlimmste.
So wie ich da auf dem Boden lag und durch die Unmengen an Alkohol nicht mehr in der Lage war, mich zu bewegen, spürte ich auf einmal etwas an meinem Bauch.
Mein Gehirn war erst fähig aufzunehmen, was gerade geschah, als es schon lange zu spät war.
Es war kalt. Kalt und spitz.
Mehr konnte ich in meinem Zustand nicht ausmachen. Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Ich war nicht in der Lage, es herauszufinden.
Und selbst wenn ich mich mit dem letzten Fünkchen Kraft noch dazu überwunden hätte, wehren könnte ich mich trotzdem nicht.
Ein tiefer Schmerz bohrte sich in meine Haut.
Die Qualen wurden mit einem Mal heftiger.
Und dann war da plötzlich diese Stille.
Diese scheinbar unendliche Stille.
Alles war schwarz. Pechschwarz.
Ich nahm gar nichts wahr.
Einfach gar nichts mehr...