4. Julia

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Julia  

Es ist ein herbstlich warmer Abend, als Arabella und Celia durch die dunklen Straßen Birminghams gehen, von Straßenlaternen beleuchtet werden, die mit dem Nebel um die Helligkeit kämpfen. Die Luft ist erfüllt von lauen Lachern, einer stärkenden Atmosphäre und zartem, sanftem Hauchen, das so spürbar scheint, dass man es beinahe greifen könnte.

Celia sieht zu Arabella und ihr Herz erwärmt sich von allein, als sie ihre dunkelrot geschminkten Lippen zu einem starken Lächeln formt, so, als würde sie jegliches Zeitgefühl verlieren.
Autos breschen an ihnen vorbei, die wilden Lichter der in kurzer Zeit schließenden Läden erhellen die Szenerie, als die beiden Mädchen schließlich stehen bleiben.

Das Crescent leuchtet ihnen in dunkelroten, matten Farben entgegen. Ein einzelner, älterer Mann, der sich vor Kälte oder Gier die Hände reibt, steht vor dem kleinen Theater und sucht nach neuer Kundschaft.

Als er die beiden Mädchen erblickt, weiten sich seine Augen enorm und er setzt sein bestes Lächeln auf, zeigt seine ungepflegten, gelben Zähne.
"Guten Abend, die Damen, wie kann ich Ihnen behilflich sein?"

"Wir haben hier zwei Karten für die 20:00 Uhr Vorstellung. Wollen Sie uns nicht in den Raum begleiten?",fragt Arabella und hält dem Mann die geschenkten Tickets hin. Er reißt sie ihr überglücklich aus der Hand und sagt etwas dergleichen wie "Selbstverständlich".

Die Innenausstattung erinnert an moderne Theater, ist auf billige Weise pompös und protzig gehalten, stellt zur Schau, was es bieten kann. An der Decke des Raumes der Rezeption hängt ein riesiger, vergoldeter Kronleuchter, an der Wand hängen Goldketten herab, als würden sie einen an die eigene Armut erinnern wollen.
Arabella scheint nicht einmal halb so erstaunt wie Celia zu sein, nimmt den Protz so hin, als würde er ihr alltäglich begegnen.

Während die Mädchen dem eitlen Mann folgen, denkt Celia nur zu gern an die Situation vom Donnerstag zurück. Sie denkt an Jemimas schöne Worte.

"Du spielst?",fragte Celia erstaunt, ihre Augen interessiert geweitet.

Jemima nickte, ein Anflug von Stolz setzte sich auf das Porzellangesicht.
"Und ob. Ich spiele seit 3 Jahren im Crescent. Meine Vorstellungen sind sogar meist ausgebucht."
Celias Begeisterung nahm nicht an Wert ab, ihre Augen glitzerten beinahe und sie verliebte sich in den Gedanken, Jemima auf einer Bühne zu sehen. Diese starke Persönlichkeit.

"Nein, wirklich? Wie toll das ist! Welche Rollen spielst du denn? Etwas Bekanntes?"

"Ja leider",das blonde Mädchen setzte sich auf einen bemalten Holztisch, "nur grausige Rollen, die es viel zu oft gab. Würde ich dich raten lassen, würdest du sofort draufkommen. Ja, ich spiele die Julia. Natürlich die Julia."

"Shakespeare?"

Jemima nickte, zuckte kurz mit den Fingern, als würde sie sich eine erneute Zigarette anzünden wollen, aber sie ließ es sein. Arabella war ganz still, sagte nichts.

"Auch Shakespeare war wundervoll. Ein wundervoller Dramatiker, der wunderschöne Stücke schrieb, aber so sehr ich Keats langsam satt bin, so vergeht mir auch die Lust an Shakespeare. Es ist wie Virginia Woolf schrieb, eine mögliche Schwester Williams, die das gleiche Können und Geschick besäße, hätte niemals die gleiche Berühmtheit erreichen können wie ihr Bruder. Nie. Unter keinen Umständen."

Jemima war kurz ruhig und in Gedanken. 

"Und so sehr ich es auch genieße, die Julia zu spielen, kann ich es nicht mehr ab, von Männern geschriebene und idealisierte Frauen zu spielen. Ich kann das langsam nicht mehr." 

"Und wieso spielst du dann?",fragte Celia weiter, immer noch genauso begeistert wie vor wenigen Minuten.

"Weil es der einzige Weg ist, mich zu etablieren, mich in den Köpfen der Menschen einzubrennen, weiterzuleben, wenn ich tot bin und vor allem ein Vorbild für alle jungen Damen dieser Welt zu sein. Mir wurde die Rolle nur gegeben, weil eine Frau die Julia spielen muss. Meistens werden dann welche gewählt, die nicht dafür geeignet sind, um die Frau nicht gleich dem Mann darzustellen. Also mache ich den Unterschied. Ich bin gut in dem, was ich mache. Ich habe Talent, ich spiele mit Leidenschaft. Und auch wenn ich den Köpfen der Allgemeinheit nur eine kleine, nein, winzige Theatermaus bin, mache ich trotzdem auf mich aufmerksam, präsentiere mich, zeige mich. Als kleines Mädchen hätte ich immer gern ein Vorbild gehabt. Jetzt bin ich es hoffentlich für andere."

 𝐕𝐈𝐒𝐈𝐎𝐍𝐀𝐑𝐈𝐄𝐒 Where stories live. Discover now