22. Fühlen

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Fühlen

Celia kennt Monotonie. Sie weiß, wie sie sich in feinen Zügen anschleicht, eine strahlende Illusion, die erst ihr wahres Gesicht zeigt, wenn nichts mehr als Kälte herrscht. Wenn die Asche kühl ist und die Menschen abreisen, ihre Sorgen wie bei Beerdigungen zurücklassen. Wenn nichts als das Gefühl der eisigen Leere verbleibt, die so viel stärker ist, so viel lauter, als das Glück.

Monotonie sieht Celia, wenn sie aus dem Fenster auf die grauen Wolken blickt, wenn ihre Mutter sie wieder nicht versteht und wenn sie wieder ganz allein ist.

Monotonie kannte sie zuerst, als ihr Vater ihr sagte, er würde in zwei Wochen zurücksein und dann würden sie zusammen Zeit verbringen und an den See gehen. Und so wartete sie.

Und wartete.

Und er kam nicht wieder.

Und sie verbrachten auch keine Zeit.
Und sie gingen auch nicht an den See.

In den Momenten ist das monotone Lebensgefühl so greifbar, dass es allumfassend scheint.

In den letzten Jahren entwich dieses Gefühl nicht, es blieb und klammerte sich fest. Erst mit dem Eintritt fremder Feingeister in Celias Leben gab es eine Wende, auf die sie sehnsüchtig blickte. Die Monotonie wich so weit in den Hintergrund, dass Celia sie vergaß. Und nun, Calisto, die Sonne, in ihrem Leben, lässt sie fast unecht scheinen. Das Gefühl des Glückes und der Freiheit ist stärker, als jedes Seil, das sie wieder in den Abgrund zu ziehen wagt.

Celia sieht Monotonie jedoch, wenn sie ihren Bruder ansieht. Lucien, der immer ruhig war. Der Funken Hoffnung Celias Mutter, der Diamant, der alles noch retten kann. Und viel mehr ist er jedoch eines dieser Boote, die nicht wissen, wohin sie fahren.

Lucien, wenn er mit brennenden Augen und glühenden Wangen auf seinen Teller blickt, während Celia und Mutter diskutieren, der blass wird, sobald nur noch die eisige Stille in der Luft liegt und der bis Ferris kam, seine Zeit nur in der Uni und in seinem eigenen Zimmer verbrachte. Lucien, der Mutter nie widerspricht und sein Leben bestmöglich in den Farben anderer Menschen malt, sein Leben an das anderer anpasst.

Lucien, der nie viel sagt. Der in Vater nicht das Gleiche sieht wie Celia, der nie diese Bindung hatte. Vater liebte seine Kinder gleich stark, er lächelte sie immer mit den gleichen Sternen an und bat ihnen die Möglichkeit, wieder zu fliegen, wenn sie das Leben zu Boden zwang. Lucien versteht nie, weshalb Celia so sehr an einem Menschen hängt, den sie nie wirklich kennenlernen wird, der nie wieder da sein wird.

Lucien, der gewöhnlich keine eigenen Meinungen hat, um andere Leute nicht zu verärgern, um zu passen, reinzupassen.

Aber auch Lucien, der gelacht hat, als Mutter nicht zu Hause war, der mit Arabella trank und mit Jemima reimte, der mit Ferris ein Lächeln teilte und seine Schwester das erste Mal in den Arm nahm. Lucien, der sich widersetzt, sich aus dem Haus schleicht, um seine Freunde zu sehen. Lucien, der alles dafür tun möchte, um Celia vor Mutter zu schützen und der Geld spart, um sich ein Leben jenseits dieses Schwimmbeckens aufzubauen. Lucien, der einen geheimen intellektuellen Verstand hat, den er versteckt, um anderen keine Angriffsfläche zu bieten. Lucien, der bislang nicht gelernt hat, Grenzen zu setzen, doch nun so langsam zu einem eigenen Menschen wird.

All das kann sie in Luciens edelholzbraunen Augen sehen. Schöne runde Augen, die zu viel fühlen, was der Mund nicht sagt, aber die Seele fühlt.
Genau diese Gefühle spürt sie auch, als er mit dem Rücken zu ihr steht, den Abwasch macht, während Celia am Küchentisch sitzt und Aufgaben fertigstellt.

Es ist ruhig, nur Lucien macht ein Geräusch, sein hektisches Einatmen macht sich in der Luft breit und umarmt die sowieso schon kühlen Ecken des alten Hauses.
"Lucien?",fragt Celia.

 𝐕𝐈𝐒𝐈𝐎𝐍𝐀𝐑𝐈𝐄𝐒 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt