25 ~ Beim Feind

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Cian fluchte, als der Riemen seiner Reisetasche von der Schulter rutschte und das Gepäckstück polternd die Treppe hinunterfiel. Sein Stresspegel war in den letzten Stunden in erschreckende Höhen geklettert. Er stand so unter Spannung, dass die Berührung einer Feder ihn in tausend Teile zerspringen lassen würde.

Die vorletzte Treppenstufe knarzte laut und der Leopard stellte das Fell auf. Cian schaffte es kaum, sein Tier unter Kontrolle zu halten. Alle seine Gedanken kreisten um Taluna und das Bild der Überwachungskamera. Nachdem er Taluna zum Packen nach Hause geschickt hatte, hatte er nochmals Banks angerufen.

„Ich schicke Ihnen die Pläne für das sichere Haus."

„Ja, Sir."

„Sie müssen das allein durchziehen Walker, ich kann Ihnen niemanden schicken."

„Ich werde nicht versagen", sagte Cian mit unbeugsamer Willenskraft in der Stimme.

„Sorgen Sie einfach dafür, dass ihr nichts geschieht. Unter keinen Umständen", brummte sein Vorgesetzter, ehe er aufgelegte.

'Du musst dich zusammenreißen', mahnte er sich mit ruhiger Stimme, doch das war schwer. Seine Hand war ebenso kalt wie die Klinke, als er die Haustür öffnete und hinausging. Jedoch verharrte er mitten in der Bewegung, als Fäulnisgestank die Innenseite seiner Nase verätzte.

„Oh Gott, nein!", entfuhr es ihm und er hastete die Einfahrt hinunter auf die Straße. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als der ekelerregende Geruch noch stärker wurde. Der Leopard in seinem Kopf warf sich mit voller Wucht gegen die Mauern seines Gefängnisses, denn das Tier hatte die Witterung schneller erkannt als der Mann: Buttersäure.

Die ätzende Flüssigkeit roch für Cian nicht einfach nur furchtbar, sondern erinnerte ihn an noch so vieles mehr. Bildsequenzen schossen durch seinen Kopf – ein düsterer Raum, die Wände mit Unrat und Blut beschmutzt und überall dieser durchdringende Gestank.

Er schüttelte den Kopf, verscheuchte seine Alpträume und rannte los. Vorbei an Menschen, die sich die Nasen zuhielten und sich näselnd miteinander unterhielten. Doch Cian bekam nichts von ihren Worten mit. Sein Körper befand sich schon in der Wandlung zwischen Mensch und Hybrid, als er schlitternd vor Talunas Haus stehen blieb.

Die Haustür stand einen Spalt weit offen und soweit es möglich war, roch es hier noch schlimmer. Mit geduckter Haltung schlich er sich in den Flur und spähte in die Küche. Nach wenigen Minuten hatte er das gesamte untere Geschoss durchsucht – doch nichts gefunden.

Er zuckte zusammen, als er aus dem oberen Stockwerk lautes Poltern hörte. Sein geflecktes Fell schimmerte zwischen den Stellen seiner Kleidung durch, die seine Wandlung nicht unbeschadet überstanden hatten, als er langsam die Treppe hinauf schlich. Vorsichtig näherte er sich dem Zimmer, aus dem der Radau kam.

„Jemand zu Hause?", fragte er leise und sah sich in dem Raum um. Ein klagendes Maunzen drang aus dem großen Schrank zu seiner Rechten. Er war schon auf halben Weg zu dem Möbelstück, als seine Aufmerksamkeit von einem kleinen Plastikteil auf dem Boden erregt wurde. Als er sich hinkniete, erkannte er die Schutzkappe einer Einwegspritze – sein schlimmster Verdacht bestätigte sich.

Mit düsterer Miene kramte er sein Handy aus der Hosentasche und drückte auf Wahlwiederholung.

„Was gibt es jetzt schon wieder Walker?", erklang die genervte Stimme von Victor Banks.

Cians kompletter Körper verkrampfte sich. „Boss, sie haben sie geschnappt."

~

Sein Pulsschlag war ruhig, seine Atmung kaum sichtbar. Regungslos verharrte er zwischen dem dichten Blätterwerk und beobachtete die Szenerie. Goldenes Fell blitze auf, als der Agent wieder aus dem Haus trat. Suchend sah er sich um, doch er würde nichts finden.

Der Adler legte seine Federn noch enger an seinen Körper. Er war sich seiner Sache sicher, hatte es schon zu oft getan, um sich einen Fehler zu erlauben. Alle Menschen und Nairi waren gleich, sie suchten nicht zuerst in ihrer näheren Umgebung. So bemerkte der Leopard auch nicht, dass er direkt an seiner Freundin in dem silbernen Auto vorbeiging, als er zu seinem Haus zurückeilte.

'Der Wald vor lauter Bäumen', dachte der große Greifvogel und gestattete sich ein kleines Lächeln. Er würde warten, seine Frist lief erst heute Abend ab.

Sein Gewissen hob protestierend den Kopf in seinem Unterbewusstsein.

„Denkst du denn gar nicht an das Leben dieser Unschuldigen?", fragte es anklagend. Doch das leise Wispern einer Kinderstimme erstickte jeden Zweifel an seinem Handeln.

„Daddy, ich hab Angst..."

~

Taluna wollte sich übergeben, ihr gesamter Körper wollte sich aufbäumen und ihren Magen bis zum letzten Tropfen entleeren. Doch die Droge, die immer noch durch ihre Adern floss, verhinderte es. Annähernd genauso schlimm wie der unterdrückte Brechreiz war ihre Orientierungslosigkeit. Taluna lag noch immer in vollkommener Dunkelheit, doch das Auto bewegte sich. Sie fühlte die Vibrationen des Motors und ihr Körper rutschte hin und her, wenn das Gefährt eine Kurve nahm.

Ansonsten wusste sie nichts: Nicht wie lange sie bewusstlos gewesen war, nicht wo sie sich nun befand und auch nicht, wann sie sich je wieder bewegen konnte.

'Das habe ich nun von meiner Sturheit', dachte sie und hätte am liebsten hysterisch gelacht. Aber diese Erkenntnis brachte ihr nichts, wenn diese PurHuman-Leute wirklich so schlimm waren, wie Cian ihr gesagt hatte. Ein eiskalter Schauer rann durch ihren Tierkörper. Cians Narben tauchten vor ihrem inneren Auge auf und Taluna wurde es noch schlechter.

Unvermittelt stoppte das Auto und der Motor wurde abgestellt. Kurz stieg jemand aus, lief zum Kofferraum und öffnete ihn. Wie ein Altkleidersack wurde Taluna herausgezerrt und über eine Schulter geworfen.

'Oh Gott', jammerte Taluna gequält, als sie mit dem Kopf nach unten getragen wurde. Ihre Nase wurde dabei noch stärker in das stinkende Material des Sackes gedrückt.

„Ich habe meinen Teil erfüllt", sagte eine leise Männerstimme, ganz nah bei Taluna.

'Ah, der Mistkerl', schlussfolgerte sie.

Eine tiefe Stimme antwortete: „Bring sie rein." Darauf folgte das Geräusch von mehreren Bolzen, die aus ihren Verriegelungen glitten. Ein helles Pfeifen und dann glitt eine schwere Tür auf. Ihr Entführer setzte sich wieder in Bewegung, bog um einige Ecken und stieg dann mehrere Treppen hinunter.

Jemand auf Absätzen kam ihnen entgegen und Taluna hörte eine Frau leise lachen – doch es klang nicht fröhlich.

„Ah Jake, auf Sie ist Verlass", sagte die Frau und Taluna hasste sie schon jetzt.

„Wie vereinbart."

Wieder wurde eine Tür aufgesperrt und kurz darauf wurde Taluna unsanft auf den Boden gelegt. Der Reißverschluss öffnete sich und sie wurde am Hinterbein herausgezerrt. Gedämpftes Licht empfing sie und endlich, endlich ließ der beißende Buttersäuregestank nach.

Aus halb geschlossenen Augen sah sie zu den beiden auf, die immer noch auf der Türschwelle standen. Da war der hagere Nairi, der Adler. Neben ihm stand eine Frau mit strengem Pferdeschwanz. Nicht eines ihrer hellblonden Haare hatte sich gelöst. Mit ungewöhnlich dunklen Augen starrte sie auf Taluna herab.

„Oh, was für ein süßes Kätzchen", gurrte sie. Doch die Worte klangen kalt und verhießen nichts Gutes. Die Menschenfrau lächelte, und es sah aus wie ein Zähnefletschen. Talunas Blut gefror in ihren Adern bei dem, was nun folgte.

Mit dieser Grimasse drehte sie sich zu dem Mann um und sagte: „Es ist lange her, seit ein Leopard bei uns zu Gast war."

Love Me WildWhere stories live. Discover now