35 ~ Patt-Situation

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Jake fühlte die Gefahr. Es war wie die Berührung einer eiskalten Hand an seinem Nacken, die ihn darauf aufmerksam machte. Der Adler in ihm krächzte nervös und flatterte mit den Flügeln. Dennoch, er blieb still. Owen war im Wagen, ihm konnte nichts passieren. Dank der getönten Scheiben konnte niemand ins Wageninnere sehen, das Kind war also nicht in Gefahr.

'Aber dein Leben ist es', drängten ihn seine Instinkte. Er verstärkte den Griff um die Handgelenke der jungen Frau. Er konnte die Schlagader an ihrem Hals pochen sehen, viel zu schnell für ihre ruhige Körperlage. Jake fixierte den Mann ihnen gegenüber. Victor Banks war eine beeindruckende Gestalt. Das dominante Raubtier war ihm anzusehen.

„Kein feiger Piepmatz, so wie du", giftete die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Jake versuchte sie zu ignorieren, doch wie immer erfolglos.

Sein Vater der Meinung gewesen, dass Jake immer viel zu weich gewesen wäre. Er hatte sich alles zu Herzen genommen, hatte immer gezögert und hatte in den entscheidenden Momenten einen Rückzieher gemacht.

„Vater, ich kann ihn nicht umbringen!" Als er diesen Satz seinem Erzeuger entgegen geschrien hatte, war Jake gerade einmal fünfzehn Jahre alt gewesen. Vor ihm hatte ein älterer Nairi gekauert, sein graues Fell war schmutzig gewesen und seine Augen hatten ihn bereits leer angestarrt.

„Natürlich", hatte sein Vater beharrt und dem armen Mann einen kräftigen Tritt verpasst.

„Los, tu es!", hatte der erwachsene Seeadler gebrüllt und Jake eine Ohrfeige gegeben. „Entweder er stirbt oder du." Es war der volle Ernst seines Vaters gewesen, das war Jake an diesem Abend klar geworden. Also hatte er dem alten Wolf das Genick gebrochen. Übelkeit hatte ihn gequält, als der Sterbende ihn mit leeren Augen anstarrte.

Von diesem Tag an hatte Jake zehn Jahre lang die Familientradition weitergeführt – er hatte im Auftrag der Menschen von PurHuman getötet. Oft waren es Nairi, so wie er selbst. Als sein Vater dann gestorben war, war es für ihn wie eine Befreiung gewesen. Er hätte es nie fertig gebracht, ihn selbst zu ermorden. Dennoch, er war erleichtert gewesen. Er hatte seiner Frau und seinem Sohn versprochen, dass er endlich aufhörte. Marie hatte gelächelt und war ihm um den Hals gefallen. Sie waren endlich frei.

Doch es war anders gekommen, ganz anders. Jake hatte Fiona Hopps davon in Kenntnis gesetzt, das er nie wieder einen ihrer dreckigen Aufträge entgegennehmen oder gar ausführen würde.

„Oh sicher, kein Problem Jake", hatte sie gesagt und ihn angelächelt. In diesem Moment hätte Jake stutzig werden sollen, doch sein Glücksgefühl hatte die Warnrufe seines Unterbewusstseins abgeblockt.

Daheim angekommen hatte ihn diese Vorahnung mit aller grausigen Macht eingeholt, die das Universum zu bieten gehabt hatte. Seine geliebte Frau lag wie ein gerupftes Huhn auf dem Boden, die Gliedmaßen unnatürlich verdreht. Nur wer wusste, dass ihr Tier ein Falke war, hätte sie noch als solchen erkannt. Mit ihrem Blut war eine Nachricht an die Wand geschrieben worden: Wir haben Ihren Jungen – tun Sie, was wir Ihnen sagen.

Jake hätte wissen müssen, das Fiona ihn niemals gehen lassen würde. Diese schmutzige Hure war grausam und besaß kein Gewissen. Seit einem Jahr erpresste sie Jake mit dem einzigen, was er noch hatte: seinem Sohn Owen. Der kleine war ein so süßer Kerl, er hatte die Gesichtszüge seiner Mutter.

Er war der Grund, weswegen Jake seine letzten Zweifel und Moralvorstellungen abgelegt hatte. Er wusste, dass er sich damit zu einem seelenlosen Sklaven der Teufelin gemacht hatte, doch es war ihm egal. Sein einziger Schatz durfte kein Leid erfahren. Es machte Jake immun gegen sein Gewissen, das ihn drängte das Richtige zu tun.

„Sie sind mein Vater?", hauchte die junge Pantherin neben ihm. Der Löwe nickte lediglich.

„Warum?", fragte sie matt. Jakes Herz zog sich für einen Moment zusammen. In diesem einen Wort lagen so viel Schmerz, so viel Trauer und Einsamkeit. Jake konnte sich vorstellen, für was dieses Warum stand. Warum hast du mich verlassen? Warum warst du nicht bei mir? Warum hast du mich nicht geliebt?

Love Me WildWhere stories live. Discover now