pov. Elisabeth:

Enjolras verlässt zügig das Hinterzimmer des Musains und lässt uns verwirrt zurück. Was war das gerade? Diese Patria, oder wie auch immer ihr Name ist, hatte ihn einfach so geküsst! Nur weil sie denkt, dass Victor sie verlassen hat wegen seines Bruders. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Warum war Victor überhaupt mit ihr zusammen? Sie ist so... anders als er.

Bevor Enjolras hierher kam, hatte ich eine- sagen wir- kleine Auseinandersetzung mit Patria. Erst hat sie sich darüber aufgeregt, dass ich eine Frau bin und gar nicht hier sein sollte- was dumm ist, da sie selbst eine ist und das Zimmer ohne Aufforderung betreten hat. Dann hat einer der Les Amis einen Scherz darüber gemacht, dass ich Enjolras Freundin sei, was natürlich nicht stimmt, aber sie hat es selbstverständlich geglaubt. Darum hat sie mich angeschrien und behauptet ich hätte ihre Chance auf Glück zunichte gemacht. Zuerst hatte ich ihr noch freundlich erklärt, dass das ein Missverständnis war und ich Enjolras nicht einmal leiden kann.

Ob sie mir das geglaubt hat? Natürlich nicht. Patria wurde nur noch wütender und hat mich noch lauter angeschrien. Da ich mir sowas nicht gefallen lasse, habe ich zurück geschrien und es wäre beinahe eskaliert, wäre Enjolras nicht kommen.

Jetzt ist dieser weg und will irgendwo hin. Vermutlich zu Victor. Außerdem soll in drei Tagen wieder ein Treffen der Revolutionäre sein. Entweder, weil wir das letzte Mal wirklich für einen Aufstand gesorgt haben oder weil Lamarque im Sterben liegt. Auf jeden Fall wird Combferre ihn begleiten und nicht ich. Ich habe meine Chance leider verpasst. Ich hätte ihnen zeigen können, dass Frauen sich auch an politischen Dingen beteiligen können. Doch jetzt muss ich einen anderen Weg finden, um das zu erreichen.

"Wo sind Enjolras und Patria?", fragt Courfeyrac verwirrt, der gerade nach oben kommt. Ich antworte: "Erst hat er sie vergrault und ist dann er völlig aufgelöst gegangen. Hat irgendwas zu erledigen, sagt er." Der Student nickt und fragt: "Was machen wir jetzt ohne ihn?" Das ist eine gute Frage.

Da keiner von uns eine Antwort darauf weiß, bestellen wir uns Essen und Getränke von Madame Hucheloup und setzen uns oben an die Tische und warten. Keiner will es riskieren, dass Enjolras zurück kommt und wir nicht mehr da sind. In seiner jetzigen Stimmung wäre das wahrscheinlich nicht von Vorteil. Er würde sich nur unnötig aufregen und das will keiner.

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pov. Enjolras:

Ich gehe zügig durch die Pariser Straßen auf dem Weg zu einem Ort, wo sich mein Bruder höchstwahrscheinlich aufhalten wird. Dort angekommen, betrete ich das große Gebäude und laufe durch die ebenso großen Gänge auf der Suche nach ihm. Irgendwann komme ich an einer, mit Gold verzierten, Tür an und klopfe leise. Als ich herein gebeten werde, atme ich erleichtert auf, als ich meinen Bruder an einem großen Schreibtisch sitzen sehe.

Er sieht von mehreren Unterlagen auf und sieht mich erstaunt an. "Was verschafft mir die Ehre einen Besuch von meinem kleinen Bruder bei der Arbeit zu bekommen?", fragt Victor erfreut nach, "doch nicht etwa wegen meines Briefes?" "Nein, ich wünschte es wäre so", antworte ich erschöpft und setzte mich auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. "Was ist es dann?", fragt er besorgt nach.

"Patria ist im Café aufgetaucht", sage ich frei heraus. "Patria?", fragt er erstaunt nach, als hätte er sich verhört. "Sie war wegen mir dort. Es ging irgendwie... nicht nur um dich dieses Mal", erzähle ich. Er sieht mich noch verwirrter an und fragt: "Was wollte sie überhaupt von dir?" "Sie meinte, dass du sie wegen mir verlassen hast. Dass ich in sie verliebt bin und du mir den 'Vortritt' lassen wolltest. Patria ist der festen Meinung, dass du es nicht ertragen könntest mich leiden zu sehen und deswegen so gehandelt hast", erkläre ich leicht angespannt.

"Wie kommt sie denn auf so etwas?", fragt Victor nach. "Du hast ihr irgendwas über mich erzählt bei der Trennung. Das hat sie dazu veranlasst so zu denken und mich vor Elisabeth und meinen Freunden zu küssen. Also, was war es, was du ihr erzählt hast?", möchte ich nun wissen. Er sieht mich mit großen Augen an, als wäre das Erzählte ziemlich surreal, was es ja auch ist. Er scheint mir aber zu glauben und antwortet: "Ich habe Patria gesagt, dass du mir gesagt hast ich hätte mich sehr verändert durch sie. Sie war anderer Meinung. Deswegen glaubt sie wahrscheinlich, dass das ein Trick von dir war, um sie für dich zu gewinnen. Ziemlich dumm von ihr. Du mochtest sie noch nie."

Über Patrias Dummheit kann ich nur amüsiert den Kopf schütteln. Wahrscheinlich war sie nie wirklich in Victor verliebt, sondern die ganze Zeit in mich. Das erklärt, warum sie sich so etwas einbildet. Es war einfach der falsche Bruder, der sie geliebt hat. "Ich habe ihr gesagt, dass sie uns in Zukunft beide in Ruhe lassen soll. Sie war ziemlich eingeschüchtert, also sollte sie uns wohl für ein paar Jahre nicht mehr auf die Nerven gehen", sage ich zufrieden. "Dann ist ja gut", erwidert mein Bruder erleichtert.

"Wie geht es Elisabeth? Bei dem Treffen war sie ziemlich aufgewühlt", fragt Victor besorgt. "Ich weiß es nicht. Wir... gestern ist etwas wirklich Seltsames passiert", fange ich an zu erzählen, "ich habe meine Rede gehalten und-" "Die Rede, die wegen ihr verloren gegangen ist?", unterbricht er mich amüsiert. "Genau die", erwidere ich, "kurz nachdem Elisabeth bei Lamarques Haus angekommen ist, kamen Soldaten und haben uns vertrieben. Wir beide mussten vor Zweien weglaufen und... wir haben uns in einer Gasse versteckt..." "Was willst du mir damit sagen?", möchte er wissen.

"Ich habe sie geküsst", antworte ich. Victor sieht mich überrascht an und ich reibe mir die Schläfe. "Du hast sie geküsst?", fragt er. "Sieht ganz danach aus", meine ich nur. "Was hat sie gesagt?", fragt er neugierig. "Zuerst gar nichts. Sie ist weggelaufen und...", fange ich an und erzähle ihm die ganze Geschichte.

Als ich ende, seufze ich frustriert auf. "Ich verstehe nicht, warum es dir lieber wäre, wenn sie dich hasst. Sag ihr einfach, was du empfindest. Wenn Lamarque stirbt, bleibt euch nicht mehr viel Zeit gemeinsam. Man sieht, dass sie dasselbe empfindet, wie du. Worauf willst du also warten?", fragt er mich. "Vielleicht hast du recht", sage ich, "aber es ist nicht so einfach, wie du sagst." "Ich habe immer recht, kleiner Bruder", meint Victor belustigt. "Natürlich hast du das. Trotzdem ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. Ich werde deinen Rat beherzigen, danke", sage ich erschöpft.

Dann steht mein Bruder auf und sagt: "Es war wirklich toll dich hier zu sehen und dir Ratschläge zu geben, aber ich muss jetzt los. Denk' an meine Worte." Er zwinkert mir zu und geht aus dem Zimmer. Ich bleibe noch kurz sitzen, bis ich ebenfalls aufstehe und mich wieder in einem der goldverzierten Gänge wiederfinde. Dann verlasse ich das Gebäude und laufe langsam zurück zum Musain.

Es ist mittlerweile später Nachmittag, als ich beim Café ankomme. Ich gehe hinein und direkt zur Treppe, um ins Hinterzimmer zu gehen. Als ich oben an der Treppe ankomme, bleibe ich stehen und frage erstaunt: "Ihr seid noch hier?" Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Les Amis noch hier sein würden.

"Wir können doch nicht einfach gehen", meint 'Ferre. "Wir wussten, dass du zurück kommen würdest", sagt Joly. Sie alle sehen mich an und ich weiß nicht, was ich tun soll. Eigentlich will ich gerade nur meine Ruhe und sage deshalb: "Das Treffen heute macht keinen Sinn mehr. Ihr könnt nach Hause gehen." "Was ist los mit dir, Enjolras?", fragt Courfeyrac besorgt. "Du lässt doch sonst kein Treffen aus."

"Dann wird es höchste Zeit dafür. Ich hatte keine Pause von der Revolution seit diese Organisation gegründet wurde", sage ich müde und setzte mich auf einen der Stühle. Courf hat recht. Das sieht mir nicht ähnlich. Der Fortschritt war bisher immer das Wichtigste in meinem Leben. Nie habe ich mir auch nur Gedanken über etwas anderes, wie zum Beispiel Frauen gemacht. Ich hatte die Liebe immer als Hindernis gesehen und das tue ich immer noch. Mit dem Unterschied, dass ich Gefühle für eine ganz besondere Frau entwickelt habe.

Morgen muss ich wieder ich selbst sein. Ich muss mich auf das Wichtigste in meinem Leben konzentrieren und das ist nun einmal der Fortschritt dieses Landes. Eine Demokratie, und nicht Elisabeth. Ich muss sie irgendwie aus meinem Kopf bekommen. Das dürfte doch nicht so schwer sein, oder?

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Danke

LG Lina

Elisabeth Helóise Pontmercy (Les Mis FF)Where stories live. Discover now