20.

50 3 2
                                    

pov. Elisabeth:

„Elisabeth, wach auf", ruft eine Stimme von weit her. Ist das Marius? „Steh auf, wir kommen sonst zu spät", höre ich seine Stimme nun viel deutlicher. Ich öffne meine Augen und sehe Marius' Gesicht direkt vor mir. „Zu was kommen wir zu spät?", frage ich ihn verschlafen. Mein Bruder geht aus dem Zimmer und ruft mir hastig zu: „Heute hält Enjolras seine Rede und wir haben verschlafen. Also steh auf und beeil dich!" Plötzlich bin ich hellwach und stehe schneller auf meinen Füßen als ich denken kann. Wie konnte ich die Rede nur vergessen?

Ich war gestern so damit beschäftigt nichts zu tun und über das Geschehene nachzudenken, dass ich den heutigen Tag komplett vergessen habe. Gestern habe ich nämlich genau das getan, was Enjolras mir geraten hat. Ich habe mich ausgeruht. Auch wenn ich noch immer nicht verstanden habe, wozu ich die Ruhe brauchte. Doch was ich weiß ist, dass ich mich jetzt beeilen sollte. Heute ist meine erste „Versammlung" außerhalb des Musains und zudem lasse ich mir doch nicht eine von Enjolras' Reden entgehen. Schließlich möchte ich wissen, ob er im Improvisieren wirklich besser ist als im Ablesen.

Als ich fertig angezogen bin, gehen Marius und ich zügig zum Musain, nur um dann festzustellen, dass niemand mehr da ist. „Ihr seid zu spät", sagt ein kleiner Junge hinter uns. „Gavroche? Was machst du noch hier?", frage ich ihn außer Atem. Dieser lächelt mich an und sagt: „Ich soll auf euch warten, um euch zu sagen, dass die Rede nicht mehr am Bastillenplatz stattfinden wird, sondern vor Lamarques Haus." „Ich sollte mich beeilen, wenn ich nicht noch später kommen will", meint Marius, „ihr kommt mit." Dann dreht er sich zum Ausgang und verschwindet mit zügigen Schritten nach draußen.

Gavroche und ich haben Mühe mitzuhalten und irgendwann können wir ihn nicht mehr sehen. Warum muss er auch so schnell laufen? Da ich den Weg nicht kenne, bin ich froh als hinter einer Ecke Éponine auftaucht. „Dich schickt der Himmel", sage ich erleichtert und gehe mit Gavroche an der Hand zu meiner Freundin. „Elisabeth", sagt diese erstaunt, „müsstest du nicht längst bei Lamarques Haus sein?" Ich nicke und füge hinzu: „Wir haben Marius aus dem Auge verloren und wir kennen den Weg nicht." „Was ein Glück, dass ich sowieso dort hin wollte. Kommt mit", meint sie amüsiert und wir machen uns gemeinsam auf den Weg.

Nach einer Weile sehen wir von Weitem eine Menschenmasse vor einer Art Tribüne versammelt stehen. Gavroche zieht an meinem Armzipfel und fragt mich mit großen Augen: „Darf ich mit meinen Freunden dort drüben spielen?" „Natürlich, aber macht keinen Unsinn", antworte ich ihm lächelnd. Daraufhin werden seine Augen noch größer und er winkt seine Freunde voller Begeisterung zu sich. Als sie bei uns ankommen, sagt er stolz: „Das ist Elisabeth, meine neue Schwester." Gerührt von seinen Worten, umarme ich ihn und als ich ihn loslasse, verschwinden die Kinder in der Masse vor uns.

„Ist das Enjolras' Jacke, die du trägst?", fragt mich Éponine auch schon, nachdem der kleine Junge weg ist. Ich sehe an mir herab und stelle fest, dass ich nicht nach meiner, sondern nach Enjolras' Jacke gegriffen habe. „Ja, sieht ganz danach aus", sage ich und meine Wangen nehmen einen leichten Rotton an, „vorgestern hat er mich nach Hause gebracht und mir war kalt. Also hat er mir seine Jacke gegeben. Ich werde sie ihm heute zurück geben." Sie lächelt und fragt: „Also, was ist das zwischen euch?" Ich seufze frustriert auf. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Manchmal ist er wirklich nett zu mir und ganz plötzlich streiten wir wieder. Schon komisch, aber du solltest mir lieber sagen, was zwischen dir und Marius ist!", wechsele ich das Thema und nun ist es Éponine, die rot wird.

„Er...wir sind nur Freunde", stottert sie vor sich hin. Ich habe schon geahnt, dass da mehr ist als nur Freundschaft und ihr Verhalten bestätigt das nur. „Komm schon, 'Ponine. Ich sehe doch, wie du ihn ansiehst. Da ist nicht nur Freundschaft", sage ich fast schon flehend, denn ich wollte unbedingt mehr darüber wissen. Sie stöhnt genervt auf und erwidert traurig: „Ja, du hast recht, aber er sieht das komplett anders. Für ihn sind wir nur Freunde." „Das wird schon", versuche ich sie aufzumuntern. Dann schlängeln wir uns durch die Menschen und versuchen so weit wie möglich nach vorne zu kommen, müssen jedoch fünf Meter entfernt von dieser Tribüne stehen bleiben, weil wir nicht weiter kommen.

„Blickt nieder und zeigt etwas Gnade, wenn ihr könnt" „Blickt nieder" „Blickt nieder auf eure Mitmenschen", hört man überall in der Menschenmasse Rufe. „Wann wird das ein Ende haben?", höre ich Courfeyracs Stimme deutlich von irgendwo her. Dann höre ich Joly: „Wann werden wir leben können?" „Etwas muss passieren", schreit ein Anderer. Dann hört man wieder vereinzelte Rufe aus der Masse. „Es wird kommen", rufen sie alle.

Ich versuche einen der Les Amis auszumachen, doch sehe nur Joly, wie er Flyer verteilt. Dann sehe ich wieder nach vorne, wo Enjolras und Marius stehen. „Wo sind die Führer dieses Landes?", ruft der Blonde gerade selbstsicher aus. „Wo ist der König der Nation?" „Nur ein Mann, General Lamarque, spricht für die Menschen ganz unten", fügt Marius hinzu. Das hier wird auf jeden Fall interessanter, als ich dachte.

Ich bemerke, wie Enjolras meinen Blick erwidert und lächelt, als er sieht, dass ich seine Jacke trage. Dann wendet er sich ab, da Courfeyrac auf ihn zugeht und ihm etwas mitteilt. Enjolras Mine verzieht sich daraufhin leicht und er teilt uns mit: „Lamarque ist krank und liegt im Sterben. Er hält keine Woche durch, sagt man." Marius sieht kurz verwirrt aus, rafft sich jedoch schnell und ruft: „Mit all der Wut in diesem Land - wie lange noch bis zum jüngsten Tag?"
„Bis wir die Fetten endlich stürzen?"
„Bis wir die Barrikaden errichten?"
Plötzlich hören wir Hufgetrappel und schon sind Soldaten da, die uns versuchen zu vertreiben. Von überall hört man Rufe wie: „Vive la France!", „Vive la Révolution!" und „Vive la General Lamarque!"

Dann packt mich jemand am Arm und ich schreie auf. Zuerst denke ich, dass es einer der Soldaten ist, aber als ich mich umdrehe, sehe ich Enjolras vor mir. „Wir müssen hier weg", sagt er und will mich aus der Masse ziehen. Jedoch reiße ich mich von ihm los und sage: „Wir müssen zuerst Marius finden." „Er kommt auch alleine zurecht und jetzt komm, wenn du nicht verhaftet werden willst", erwidert er. Als hätte uns jemand belauscht, höre ich nicht weit von uns entfernt einen Mann brüllen. „Marius, hast du eine Ahnung was du für eine Schande über die Familie bringst?", das war eindeutig die Stimme meines Großvaters.

„Nicht umdrehen", sagt Enjolras eindringlich. Doch zu spät. Ich habe mich schon umgedreht und sehe in das Gesicht meines Großvaters, der genau im selben Moment zu mir sieht und mich entsetzt anschaut. Dann versucht er wütend durch die Menge zu mir zu gelangen. Darum drehe ich mich leicht panisch wieder zu unserem Anführer und sage: „Ich glaube jetzt ist der geeignete Zeitpunkt, um zu gehen." Kaum sind die Worte raus, nimmt er meine Hand in seine und rennt mit mir weg. Ein Blick zurück zeigt mir, dass wir Großvater abgehängt haben. Dafür folgen uns jetzt zwei Soldaten.

Wir biegen um mehrere Ecken, um die Beiden abzuschütteln, doch gelingen will es uns nicht. Als sie jedoch etwas weiter hinter uns sind, lasse ich Enjolras' Hand los, bleibe stehen und meine außer Atem: „Ich kann auch alleine rennen, danke." „Dann bleib nicht stehen", sagt er nur und rennt weiter. Ich habe allerdings Probleme ihm zu folgen, weil er viel schneller ist als ich. Und es dauert nicht lange bis ich ihm hinterher schreie, dass er warten soll. Daraufhin bleibt er stehen, dreht sich zu mir um und sieht zu einer engen Gasse. Als ich bei ihm ankomme, zieht er mich in diese und läuft mit mir weiter hinein. Erst als Enjolras stehen bleibt und wir uns gegenüber stehen, bemerke ich, wie klein die Gasse ist. Es passt kaum noch Luft zwischen uns und ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut und mein ganzer Körper fängt zu kribbeln an.

Er sieht mir die ganze Zeit in die Augen und ich sehe förmlich, wie er angestrengt über etwas nachdenkt, wie er im Innern einen Kampf mit sich zu führen scheint. Als die beiden Soldaten gerade in unsere Gasse biegen, zögert Enjolras nicht länger, nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich. Es ist als hätten zwei verlorene Seelen zueinander gefunden und verwirrt erwidere ich den Kuss. Nach einer Weile, als ich aus dem Augenwinkel sehe, wie die Soldaten umdrehen, löst er sich wieder von mir.

Jetzt erst begreife ich, was gerade passiert ist. Enjolras hat mich geküsst und ich hatte diesen erwidert. Ich weiß nicht, ob ich noch verwirrter, wütend oder beleidigt sein soll und suche deswegen in seinen Augen nach einer passenden Antwort. Er weicht meinem Blick jedoch aus und sieht zum anderen Ende der Gasse, wo die Soldaten gerade noch standen. Warum sind sie überhaupt gegangen? War der Kuss so abstoßend für sie? Enjolras sieht wieder zu mir und fährt sich verzweifelt mit seiner Hand durch die blonden Locken.

-~-~-~-~-~-~-~-~-1528 Wörter-~-~-~-~-~-~-~-~-

Endlich ist es passiert, aber einfach wird dadurch gar nichts! Muhaha *reibt sich schelmisch grinsend die Hände*
Ok, genug dummes Gelaber für heute...*hust*

Wenn ihr Kritik, Verbesserungsvorschläge oder ähnliches habt immer her damit. Und wenn euch das Kapitel gefallen hat, könnt ihr gerne eure Stimme da lassen!⭐🙃

LG und bleibt gesund,
Lina

Elisabeth Helóise Pontmercy (Les Mis FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt