Vergiss mich nicht, kleine Helena

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Annie, Susanne, Annika, Anthony und Johanna stehen bereits auf dem großflächigen Parkplatz, als Helena, Friedemann und Lucy zwischen den Häusern des fast ausgestorbenen Dorfes auftauchen. Von Weitem sehen sie aus, wie falsch gesetzte Farbkleckse, die sich bunt von dem verwaschenen Braun, Grau und Ockergelb des Dorfes abheben.
Helena trägt eine rote Regenjacke, die sie sich von Susanne geliehen hat, weil Susanne absolut alles doppelt besitzt. Friedemanns Jacke ist blau und Lucy rundet das ganze wie immer als schwarz-weißer Tupfen ab. Ein Bild, aus dem man ganz leicht wieder herausgehen kann. So leicht, dass man es eigentlich gar nicht spürt.

Anthony hätte natürlich gern noch einmal die Herberge gesehen, in der er als Kind sämtliche Sommerwochen verbracht hatte und fast wäre er umgekehrt und noch einmal durchs Dorf gegangen, aber Helena hat ihm davon abgeraten und das nicht nur wegen der Einsturzgefahr.
Seit sie bei der Herberge wieder zur Tür hinaus ist, fühlt sie sich seltsam schwer, als würde ihre Haut aus Glas bestehen, welches die schwere Last ihrer Knochen nicht tragen kann und zu zerbersten droht.
Annie sieht es natürlich, sie sieht alles, aber sie stellt keine Fragen, weil es keine Antworten geben würde darauf.

Johanna sieht es auch, aber anstatt nur keine Fragen zu stellen, nimmt sie Helena bei der Hand. Die Hand knirscht gläsern und Helenas gesamtes Dasein klirrt bei jedem Schritt, den sie macht.
Sie setzen sich zu siebt an einen Tisch in einer engen Kellerkneipe und eigentlich ist ganz perfekt so wie es ist. Anthony und Annie unterhalten sich über alles Mögliche, über Gott und die Welt und über den Rest, Friedemann sagt nichts, er hört nur zu, Susanne sagt die meiste Zeit eigentlich auch nichts, nur manchmal versucht sie, einen Witz zu reißen und gleichzeitig zu verstecken, dass sie zaubern kann, und Annika lächelt wie ein Engel, der diesmal nicht blassblond ist, sondern rabenschwarz, alles ist, wie es sich gehört.

Sie sind alle wie eine große Familie, die man sich selbst ausgesucht hat. Sie sind seit gestern alle gleich alt, nur Helena nicht. Helena fühlt sich uralt, verglichen mit ihnen. So alt wie Pascal nie geworden ist, obwohl Helena ihn immer so wahrgenommen hat. Helena freut sich für sie, dass sie alle so zueinandergefunden haben, und dass es vielleicht sogar gut ist, dass sie selbst nicht dazugehört oder jemals dazugehören wird, weil ihr Schmerz keiner ist, den man überwinden, überdauern oder gar überleben kann.
Obwohl Johanna im Prinzip Teil dieses Bildes, hält sie sich ganz deutlich fern davon. Sie bleibt mit Helena am Rand stehen und wagt keinen Schritt über den breiten, mit Gold verzierten Bilderrahmen.

Johanna hält Helenas Hand unter dem Tisch fest und Helena glaubt ganz fest daran, dass Johanna sie vor dem grässlichen Walfisch gerettet hat. Dass ihre Liebe ihr Zuflucht und Halt gab, als Helena sich vorkam, wie ein Storch, der weder auf einem, noch auf zwei Beinen steht, weil ihm beide Beine gewaltsam ausgerissen worden sind. Sie war dazu gezwungen, in der Luft ihre Kreise zu ziehen, da sie nirgends landen konnte. Nur Johanna brachte sie auf den Boden zurück. Johannas Liebe hat sie gerettet.

Helena muss daran glauben. Vor allem jetzt. Bevor ihr endgültig der Verstand durchbrennt.
Aber im genau richtigen und gleichzeitig genau falschen Moment, schaut Helena vom Tisch auf und sieht die Wirtin der Kneipe, wie sie ein Glas abwischt. Die Wirtin schaut schnell weg und schrubbt schnell weiter ihr Glas und versucht zu verbergen, dass sie Helena jetzt schon eine ganze Weile beobachtet hat.
Helena glaubt nicht an Zufälle, genauso wenig wie Augustus an Zufälle glaubt, aber an Zeichen glaubt sie ja eigentlich auch nicht. Trotzdem sucht Helena sich den berühmtesten Rückzugsspruch aus, den es überhaupt nur gibt auf der Welt:
"Ich geh mal aufs Klo." sagt sie, steht auf und schiebt sich an Johanna vorbei. Johanna lässt ihre Hand los und versucht, ihr nicht hinterher zuschauen.

Die Toilette der Kneipe wird nicht in Männer und Frauen getrennt. Es gibt nur eine Toilette in einem winzigen Raum, davor ist ein Waschbecken. Der winzige Raum ist kaum länger als ein Sarg. Eine alte Glühbirne baumelt von der Decke, Helena benutzt sie nicht, weil das fahle Tageslicht durch ein kleines, gekippten Fenster hereinfällt.
Helena zieht zweimal die Spülung, um irgendwas getan zu haben und dann wäscht sie sich draußen die Hände, obwohl sie die Toilette gar nicht benutzt hat.
Sie geht so unauffällig an der Wirtin vorbei, wie nur irgend möglich, trotzdem verlangsamen sich ihre Schritte automatisch und an der dunkelgrünen Ofenbank bleibt sie stehen und schaut sich um, als hätte die Wirtin ihren Namen gerufen. Dabei hätte man sowas in Wirklichkeit gar nicht mitbekommen, denn die Kneipe ist übervoll und dröhnt vor lauter Menschenstimmen.

Dass ihr mir bloß nichts versprecht [Roman]Kde žijí příběhy. Začni objevovat