Träumerherzen

32 7 0
                                    


Sid rauscht über eine enge Straße, die gleichzeitig eine Brücke ist. Der See breitet sich funkelnd neben ihnen aus, wie ein Diamant. Rechts ragen am Straßenrand spitze, gewaltige Felsen empor. Auf der Fahrerseite ist das Fenster offen und der Fahrtwind lässt Helena das Haar wild um den Kopf flattern. Es duftet nach Zitronenbäumen und heißem Asphalt; nach verdammter Freiheit.
Johanna strahlt mit den sonnigen Glitzerfunken des Sees um die Wette. Sie weiß gar nicht, wo sie zuerst hinschauen soll, alles sieht so viel schöner aus, als man es auf einer Postkarte abbilden könnte, fast gemalt und doch echt. Farben, Düfte, betörend und aufregend wie das Leben selbst, umgeben sie von allen Seiten. Es ist wie ein Sommermärchen und Helena und Johanna schreiben es selbst. Niemand sonst ist fähig dazu.

"Schau doch wie schön das alles ist!" Johanna spaziert mit leichten Schritten über das unebene Pflaster, an bunten Läden vorbei, an rot-weiß karierten Tischdecken, schwer beladenen Orangen-und Zitronenbäumen, an kleinen Geschäften mit Töpfen und Teekannen aus Mosaik, gelb, grün und weiß. Eigentlich alles Tourikitsch, doch Johanna ist begeistert davon. Ihr Sommerkleid flattert im Wind.
Johanna schwebt wie eine Fee die Promenade entlang. Um eine weiß lackierte Bank sammelt sich zeternd ein Schwarm Möwen. Boote schaukeln dort im Wasser, manche haben Namen. Eine enge Treppe führt den Hang bis an den See hinunter. Johanna geht leichtfüßig die Steintreppe hinab. Eine breite Mauer ist jetzt das Einzige, was sie noch von dem See trennt.

Johanna nimmt auf ihr Platz.
Dann schwingt sie beide Beine über die Mauer, sodass ihre Füße kurz über der Wasseroberfläche baumeln. Helena stellt sich neben sie an die Mauer und passt auf, dass sie nicht noch vor Begeisterung in den See plumpst. Es fehlt nicht mehr viel und sie würde es tun. Man sieht es in ihren Augen. Ein winziger Strich an Vernunft hält Johanna davon ab, sich kopfüber in das Kristallwasser zu stürzen.
"Helena, sieh dir das an." Johannas Stimme zittert ein wenig. In ihren Augen schimmert etwas. Gleich werden ihr kleine, salzige Perlen übers Gesicht kullern. Helena fängt mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig die erste Perle auf.
"Danke." flüstert Johanna und nimmt Helenas Hand. Dieselbe, in der jetzt die Perle liegt.

Helena sollte fragen wofür. Sie will nur, dass Johanna glücklich ist. Sie verlangt nichts dafür. Nicht einmal Liebe. Nicht einmal etwas, was dem Konzept von Liebe nahekäme.
"Ich zahl dir das alles zurück." sagt Johanna schnell. Jetzt rollen ihr unzählige Perlchen übers Gesicht. Sie kann sie nicht zurückhalten.
"Schsch." macht Helena und drückt Johannas Hand leicht.

"Nein, das ist mir wichtig. Ich kann nicht..du hast mir so viel..Helena, ich muss mich irgendwie revanchieren dafür."
Helena schüttelt den Kopf. "Blödsinn."
Johanna schaut auf den See hinaus. Weiße Segel bauschen im Wind und weiter draußen schlittert ein Kitesurfer über das Blau. Der Wind trocknet behutsam die Salzperlen auf Johannas Wangen.
"Helena." sagt sie. "Ich zahl dir jeden Cent zurück."

"Wo willst du denn das Geld hernehmen?" fragt Helena. Johanna schaut ratlos auf ihre Schuhspitzen. Die Pailletten darauf schimmern blau im Sonnenlicht. "Ich fang an, zu arbeiten. Wenn wir zurück sind."
"Das kannst du gerne machen." meint Helena. "Ich will trotzdem kein Geld. Die Zeit, die man mit einem Menschen verbringt, ist tausendmal mehr wert als jeder Geldbetrag der Welt."
Johanna nickt langsam. Am Horizont sieht man jetzt einen zweiten Kitesurfer. Wie aus dem nichts ist er aufgetaucht.
"Hast du vorher noch nie gearbeitet?" fragt Helena jetzt.
"Doch. Ich hab in einer Bibliothek ausgeholfen." sagt Johanna und lächelt bei der Erinnerung. "Da hab ich auch Leonard kennengelernt. Er leihte sich immer Bücher über Musikgeschichte aus oder Theologie. Die Bibliothek hat einer älteren Frau gehört. Sie hat ihn von Anfang an nicht gemocht."
"Warum nicht?" fragt Helena, obwohl sie das kein bisschen überrascht.
Johanna zuckt mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht. Sie hat ihn immer misstrauisch von der Seite angeschaut. Sie hat mich immer vor ihm gewarnt."
Eine Sternschnuppe funkt durch das dunkle Blau in Johannas Augen.
"Sie war für mich, wie eine Art Großmutter. Sie hat mich bei ihr wohnen und arbeiten lassen, als ich von Zuhause weg bin. Ich hatte niemanden außer sie."

Dass ihr mir bloß nichts versprecht [Roman]Where stories live. Discover now