Anstadt im Vollrausch

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Lucy schnellt quer über den Rasen, als sei der Teufel persönlich hinter ihr her. Auf Friedhöfen hält sich die Hündin absolut ungern auf. Es riecht zu stark und zu streng und die rauen Steine lösen ein Gefühl von Unbehagen in ihr aus. Für keine ach so verlockende Belohnung würde sich Lucy freiwillig auf dieses Gelände begeben, doch heute macht sie eine Ausnahme. Auch wenn es furchtbar dunkel ist und Grillen unheimlich zirpen überall, schnellt sie geschickt an den Gräbern und hohen, verwachsenen Bäumen vorbei, denn sie hat eine Spur aufgenommen. 
Eine, die viel besser riecht, und die ihr wichtiger ist als alles andere auf der Welt. Eine Spur, die sie unter keinen Umständen jemals verlieren darf. 

Irgendwann wird das Gras viel weicher und reicht fast höher als Lucy selbst groß ist, aber sie kämpft sich hindurch, bis sie bei einer Gruppe Trauerweiden ankommt. Kurz bleibt sie stehen und hält die Nase erneut in die Luft. Darauf beginnt sie freudig mit dem Schwanz zu wedeln und springt übermütig über die Wurzeln des Baumes. Vor ihr im Gras erkennt Lucy einen menschlichen Umriss, welcher sich langsam hebt und wieder senkt. Er atmet noch. 

Lucy rennt kläffend zu der schlafenden Person hin und springt aufgeregt um sie herum. Sie hofft, dass Helena sie hier hinten hören wird. 
"Lucy, hör auf." murmelt Friedemann verschlafen, als Lucy ihn besorgt mit ihrer kalten Nase anstupst. 
Seufzend versucht er, sich aufzurichten, was ihm zuerst misslingt, da ihm alles weh tut und seine Hände sich taub anfühlen. 
Er setzt sich ins Gras und reibt sich übermüdet die Augen. Lucy hopst auf seinen Schoß und beginnt sein Gesicht abzulecken. 
"Ist ja gut." meint Friedemann und tätschelt der Hündin liebevoll den Kopf. "Wie hast du mich denn gefunden?" 

Kurz darauf hört er das Gras rascheln. Helena kommt auf ihn zugelaufen und bleibt ein ganzes Stück von der Trauerweide entfernt stehen. Ein Zweiglein hat sich in ihrem Haar verfangen. 
"Hallo." grüßt Friedemann sie zögerlich. 

"Du Vollidiot!" herrscht sie ihn an. "Du kannst doch nicht einfach verschwinden! Gerade jetzt! Vor allem ohne... ohne jemandem..Verdammt nochmal!" sie fährt sich energisch mit dem Ärmel über das Gesicht. 
"Du hast geweint." bemerkt Friedemann erstaunt.
"Halt die Klappe." erwidert Helena und will sich in Bewegung setzen, da stößt sie plötzlich mit dem Fuß gegen etwas, das im Gras liegt. Sie hebt die volle Glasflasche vom Boden auf. 
"Du hast gesoffen?" fragt sie überrascht und Friedemann nickt langsam. 

Helena kramt in den Taschen ihrer Lederjacke, sie scheint nach irgendwas zu suchen. 

"Wieso hast du nach mir gesucht?" will Friedemann wissen. 
Helena antwortet nicht gleich darauf. Sie zieht einen kleinen Flaschenöffner hervor und entfernt den Kronkorken damit. Drei kräftige Schlucke nimmt sie von dem Inhalt. Dann setzt sie ab und wischt sich über den Mund. 
"Mach mal Platz." 
Friedemann rutscht zur Seite und Helena lässt sich neben ihm ins Gras fallen. Sie hat seit Pascals Beerdigung keinen Fuß mehr auf diesen Friedhof gesetzt.

"Ich dachte, du bringst dich um oder so." sagt Helena. 
Friedemann schweigt. 

"Mehr kommt nicht?" 

"Wieso?" fragt er dann. 

"Warum ich das gedacht hab? Weil du dich in letzter Zeit ziemlich seltsam benimmst." antwortet Helena. 
"Du verwechselst da was." erwidert Friedemann. "Ich benehme mich immer seltsam." 
Helena stampft erzürnt auf. 
"Schwafel nicht immer so einen verdammten Dreck daher." zischt sie. 
"Du schwätzt schon wie dein Alter. Hör doch endlich auf, den Mist zu glauben, den er dir über Jahre eingeredet hat. Herrgott!" 
Zornig wirft sie die inzwischen leere Glasflasche ins Gebüsch und als sie Friedemanns kritischen Blick bemerkt, sagt sie: 
"Ist ja gut, ich heb die später auf." 

Sie sitzen eine Weile schweigend nebeneinander und eigentlich ist es wie damals. Nur dass es jetzt dunkel ist und Anfang April. Eine schwache Straßenlaterne leuchtet durch die tief hängenden Äste der Trauerweiden. Im Licht sieht Friedemann, dass Helenas Augen vom Weinen leicht geschwollen sind. Seine Großmutter hat ihm viel von Früher erzählt. Er hat nie verstanden, wie man Mädchen jemals für schwächer hat halten können, vor allem, wenn es solche gibt wie Helena. 

Dass ihr mir bloß nichts versprecht [Roman]Where stories live. Discover now