Saving Friedemann

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Helena besitzt keinerlei Gefühl für Konzepte wie Raum und Zeit, als das Klingeln ihres Handys ihr den Schlaf zerreißt.

Fluchend kriecht sie unter ihrer Decke hervor, um den Nachttisch nach ihrem Telefon abzutasten. Nur muss sie feststellen, dass es sich genau dort nicht befindet. Tatsächlich kommt das Klingeln von ganz woanders her. Träge schält sie sich aus dem Bett und tritt beim Aufstehen versehentlich auf Oskars Schwanz.
Der Kater schreit erschrocken auf und zischt so schnell unters Sofa ab, dass man sich seiner Verwandtschaft mit dem Gepard erst recht bewusst wird.

"Tut mir Leid, Mausilein." sagt Helena entschuldigend. Lange leidtun kann es ihr nicht mehr, denn gleich darauf findet sie ihr Handy auf einem der tiefhängenden Küchenschränke. Ein Blick auf das Display lässt sie verwundert die Stirn runzeln.
"Ja?" meldet sie sich. Eine enge Stille erfüllt den ohnehin schon kleinen Bungalow. Eine Stille, die nur hin und wieder von Oskar unterbrochen wird, weil er nervös am Sofa herumkratzt.

"Gut. Ich bin gleich da." kopfschüttelnd beendet Helena den Anruf und legt das Handy zurück auf den Schrank. Seufzend fährt sie sich mit den Fingern durch das dichte Haar und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Schließlich wendet sie sich an Oskar. "Ich hab's ihm gesagt! Ich hab's ihm doch gesagt, oder nicht?"

Oskar starrt aus großen, hellen Augen zurück. Er kann mit dem Herumgefuchtel seines Frauchens nicht viel anfangen, aber in solchen Situationen gibt man ihr lieber Recht. Er beobachtet nur noch, wie sie sich in Windeseile umzieht und dann mit dem Autoschlüssel aus dem Haus stolpert.

Der dunkelblaue Opel Astra wartet schon geduldig in der kleinen Garage neben dem Bungalow. Helena hat ihn sich nach dem Studium zugelegt. Er ist gebraucht, aber für sie gehört er im Prinzip zur Familie dazu.
Sie klopft dem Auto freundschaftlich auf das Dach und steigt ein.
"Sid, Ich glaube wir müssen wieder mal Leben retten." sagt sie, als sie den Zündschlüssel umdreht. Denn selbstverständlich hat das Auto auch einen Namen.
Kurz nachdem sie aus der schmalen Einfahrt abgebogen sind, zischen Sid und Helena bergab in die Stadt.

Durch die Wohngebiete von Anstadt schlängeln sich besonders holprige Pflasterstraßen, was einen automatisch dazu veranlasst, langsamer zu fahren. Falls die Geschwindigkeitsbegrenzung keine Wirkung zeigen sollte.
Diese Straße fährt Helena wirklich ungern durch, meistens hält sie eine Straße vorher an.
Mit zusammengekniffenen Augen liest sie die Nummern der blässlichen Häuser, die sich wie Bauklötze um die Straße herum ansammeln. Die Sonnenbrille auf ihrer Nase erschwert das ganze noch etwas mehr, aber ohne sie geht Helena grundsätzlich nicht aus dem Haus.

Sie überlegt noch, ob sie das Auto nicht lieber irgendwo abstellen und zu Fuß weitergehen soll, als plötzlich etwas den Himmel verdunkelt und dann mit einem dumpfen Schlag auf die Motorhaube kracht.
Helena erschreckt sich viel zu sehr, um überhaupt aufschreien zu können. Als sie sich wieder gefasst hat, stellt sie den Motor ab und springt aus dem Auto. Bei dem Gegenstand, der buchstäblich einfach so aus heiterem Himmel gefallen war, handelt es sich um eine Art Bilderrahmen, der ungefähr so lang ist wie Helenas Oberkörper.

Eilig tastet sie die Motorhaube ab und stellt erleichtert fest, dass Sid keine Dellen oder Kratzer aufweist. Ihr fällt allerdings auf, dass die ganze rechte Straßenseite vor ihr mit allen möglichen Gegenständen gesäumt ist: Stühle, Kisten, eine Lampe, aber vor allem zerbrochenes Geschirr.
Helena weiß nicht recht, ob sie hier richtig ist oder sich auf einem Tatort befindet.
Sie steht kurz vor der Entscheidung kehrtzumachen, als sie plötzlich Friedemann erkennt. Wie ein Häuflein Elend sitzt er auf den Stufen eines Hauses und starrt vor sich hin.
In den Händen hält er immer noch sein Handy, mit dem er nervös herumspielt.
"Junge, was zum Teufel geht denn hier ab?" fragt Helena über die Straße hinweg.

Friedemann schaut zu ihr hoch, als wolle er etwas erwidern, doch er kommt nicht dazu, denn im selben Augenblick saust ein Regenschirm von oben herunter und verfehlt Helena nur um ein Haar.
Helena schaut nach oben und direkt in das wutverzerrte Gesicht einer jungen Frau, deren hellbraunes Haar zu einem flüchtigen Pferdeschwanz zusammengebunden worden ist. Das schlaffe Hemd, das sie trägt, lässt darauf schließen, dass sie noch Minuten zuvor am Frühstückstisch gehockt haben muss.

"Wo ist der Kerl?!" entfährt es ihr schrill. Sie hält ein altes Radio über der Schulter und steht dabei gefährlich nah am Geländer des Balkons.
"Wer?" fragt Helena dümmlich.
"Du weißt genau wer." keift Sabine zurück. "Diesen Mistkerl kannst du gerne für dich behalten!"

"Du bist echt dümmer als die Polizei erlaubt." stellt Helena fest und kurz darauf zerschellt das Radio direkt neben ihr in tausend Teile. "Ey, gab's bei dir Hirntumor zum Frühstück?!" bringt sie nach einem instinktiven Seitensprung hervor, doch Sabine ist schon wieder im Haus verschwunden.
Helena nutzt die Gelegenheit und geht mit hastigen Schritten auf Friedemann zu, der noch immer wie ein verängstigtes Kaninchen auf der Treppe hockt und sich an sich selbst festhält.
"Was ist denn ihr verdammtes Problem?" fragt Helena und rüttelt ihren Freund leicht an der Schulter.

"Mein Helm." sagt Friedemann und schaut verzweifelt um sich. "Ich hab ihn nicht."
In diesem Moment beginnt Helena erst recht rot zu sehen. Sie hat Sabine immer nur ihrem besten Freund zuliebe akzeptiert, aber das hier schlägt dem Fass den Boden aus.
Vom Balkon stürzt jetzt ein Stapel Teller herunter und schmückt den Asphalt mit weißen Scherben.
Helena geht zurück.
"Du bist echt so verdammt nochmal bescheuert, dass es dir den Schädel sprengen müsste!" ruft sie den Balkon hoch.
"Diese Schwuchtel soll sich nie wieder blicken lassen!" ruft Sabine zurück.

"Sonst was?!" fragt Helena herausfordernd und als Antwort zerbricht ein weiterer Teller vor ihren Füßen.
Ihr fällt es inzwischen wirklich unheimlich schwer, sich zu beherrschen. Entschlossen steigt sie dann doch über den Scherbenhaufen und zieht Friedemann an den Handgelenken von den Stufen hoch.

"Komm wir hauen ab." sagt sie und schleift ihn zum Auto.
Für einen Augenblick glaubt Helena, einen besorgten Gesichtsausdruck auf ihrem Fahrzeug zu erkennen. Als sei Sid sich durchaus bewusst, in was für einer außergewöhnlichen Situation sie sich befinden.
Helena startet den Motor und will gerade etwas sagen, als direkt vor dem Auto ein Kerzenständer herunterfällt und auf dem harten Asphalt sein Ende findet.
Helena greift energisch nach der Handbremse.
"Das wars, jetzt bring ich sie um." stößt sie hervor und will erneut aussteigen, bevor Friedemann sie am Arm zu fassen bekommt. "Bitte nicht." fleht er heiser.
Helena fallen natürlich mehr als tausend Gründe ein, warum sie Sabine einmal ordentlich die Püppchen-Visage polieren sollte, aber sie will auch Friedemann nicht noch eine Sekunde länger diesem Zirkus überlassen. Ergeben schnallt sie sich an. Sie lenkt das Auto einmal herum und kurbelt dann die Scheibe herunter:
"Blöde Schlampe!"

"Dreckslesbe!" kommt es vom Balkon zurück, aber da ist Sid längst um drei Ecken verschwunden.
"Jetzt kann die dumme Tussi ihren Scheiß selbst wieder zusammenfegen." meint Helena mit einem Hauch von Triumph in der Stimme. Friedemann antwortet ihr nicht.

Anstadt scheint gerade erst so richtig aufzuwachen. Verschlafene Gesichter wandern aus ihren Bauklotz-Häusern, um sich im Supermarkt wieder gegenseitig ihre Einkaufswägen ins Kreuz zu rammen.
Helena seufzt.
"Hey, das ganze tut mir echt Leid für dich. Du verdienst das nicht. Das hast du nie"

"Es wundert mich, dass du mir nicht unter die Nase reibst, wie recht du hattest." antwortet Friedemann dem Fenster.
"Was denkst du denn von mir? Zu Empathie bin ich noch fähig." erwidert Helena.

An einer roten Ampel hält sie an und erblickt den großen Edeka auf der anderen Seite der Straße und dabei kommt ihr tatsächlich eine Idee.
"Weißt du Friedl, du pennst heut bei mir. Heut Abend gilt der übliche Notfallplan. Wir lassen es uns gut gehen, was meinst du?"
"Von mir aus." kommt es brummig vom Beifahrersitz. "Aber nenn mich noch einmal so und ich spring aus dem Wagen."
Helena lächelt zufrieden.

"Abgemacht."

Dass ihr mir bloß nichts versprecht [Roman]On viuen les histories. Descobreix ara