Der erste Tag meines Lebens

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Friedemann wird in die Küche gelotst, als sei es Anthony, der schon seit Monaten hier lebt und sich genau auskennt. Ganz professionell überreicht er Friedemann eine Packung Taschentücher und füllt an der Spüle ein Glas mit Wasser auf.
"Hier." sagt er. "Vom Weinen trocknet man aus."

Artig greift Friedemann nach dem Glas und trinkt es aus. Anthony beobachtet das eine Weile lang in andächtiger Stille und er sieht sein Gegenüber mitleidig von der Seite an, als dieser irgendwann wieder absetzt. "Kam sowas öfter vor?" traut er sich zu fragen. Friedemann beantwortet das mit einem Achselzucken. "So ähnlich. Nur hab ich dann meistens klein beigegeben. Aber das mit den ewigen Beleidigungen und dem plötzlichen Wieder-Aufkreuzen, als sei nichts gewesen...das hat sie sehr oft gemacht." Er schaut mit einem Mal unzufrieden drein. "Ich bin ein schlechter Freund."

"Dass du so ein Verhalten so lange erduldet hast, macht dich noch lange nicht zum schlechten Freund." wirft Anthony ein, aber Friedemann schüttelt hastig den Kopf. "Nein, so mein ich das nicht. Mir fällt nur ein...Ich war ein mieser Freund zu Helena und den anderen. Insbesondere zu Helena. Sie hat immer versucht mir zu helfen und ich hab es ihr so ​​schwer gemacht."

"Ich hab gleich gemerkt, dass ihr euch sehr nahe steht." meint Anthony. "Ihr kennt euch wahrscheinlich schon wahnsinnig lange."
"Wir sind zusammen aufgewachsen." bestätigt Friedemann. "Sie war immer für mich da, egal womit ich ankam."

Der Bungalow, in dem Helena jetzt wohnt, hat vorher ihrer Großmutter gehört. Sie war als Kind ziemlich oft dort oben, wahrscheinlich weil sie es mit ihrer Mutter allein nicht aushielt und Friedemann hat dort aufkreuzen dürfen, wann immer er wollte. Und nicht nur er. Helena brachte ständig irgendwelche Kinder mit nach Hause und auch wenn das der Oma nicht unbedingt passte, so duldete sie deren Anwesenheit trotzdem und stellte ihnen was auf den Tisch. Helena hielt die Türen für alle ihre Freunde offen, auch wenn es für Friedemann nicht immer einfach war, dass sie auch seine Schwester zu sich einlud.
Da oben hatte man seine Ruhe. Als Kinder tobten sie auf der großen Wiese herum oder blieben bei Übernachtungen die ganze Nacht wach und redeten über absolut alles, auch wenn das bedeutete, dass sie am Tag darauf hundemüde in die Schule hatten gehen müssen.

"Sabine hat sie nicht gemocht." erzählt Friedemann jetzt und seufzt. "Irgendwie versteh ich das ja auch. Und vielleicht war das ja auch eine persönliche Grenze, die ich hätte respektieren sollen. Aber ich kann so eine Freundschaft nicht einfach so aufgeben, auch nicht für sie. Aber das wollte sie nicht hören."
Anthony nickt immer wieder beim Zuhören. Friedemann reibt sich unsicher am Arm. "Ich hab gar nicht gefragt, ob du das alles überhaupt wissen möchtest."
"Doch doch, erzähl nur." ermuntert ihn Anthony. "Ich hab vorhin genug gelabert."

Friedemann verkneift sich ein Lächeln und räuspert sich. Einige Sekunden muss er inne halten, bevor er endlich rauslässt, was er noch nie irgendwem anvertraut hat:
"Ich hab das Gefühl, dass sie wahnsinnig unglücklich ist."

Anthony hebt interessiert den Kopf. "Meinst du? Sie wirkt so aufgeschlossen."

"Genau das ist es ja!" erwidert Friedemann mit Elan, der urplötzlich von ihm Besitz ergriffen hat, denn dies hier muss die erste Chance seines Lebens sein, diese Sorgen mit irgendwem teilen zu können. "Ich bin auch sicher nicht der Einzige, der das denkt. Ihre Freundinnen glauben das auch alle, aber wir reden nicht darüber, vor allem nicht mit Helena. Allein der Versuch würde sie wahrscheinlich zur Weißglut treiben, weil sie wüsste, dass wir Recht haben. Aber sie will, dass wir so tun, als wäre alles in Ordnung. Das ist so ne Art unausgesprochenes Abkommen." Friedemann hebt hilflos die Hände. "Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären soll."

"Ihr könnt mit all euren Problemen angedackelt kommen, aber ihre eigenen sind Nebensache." interpretiert Anthony. Er hat sich einen der Stühle vom Küchentisch dazu geschoben. Er schlägt ein Bein über das andere. "Wahrscheinlich glaubt sie, sie hat ihr eigenes Leben besser im Griff, wenn sie sich auf die Probleme anderer konzentriert. Dann haben ihre eigenen nicht mehr so viel Macht über sie. So denk ich mir das." Er sieht Friedemann fragend an, den diese plötzliche Analyse recht überfordert, aber allerdings auch ziemlich fasziniert.
"Sag mal, hast du zufällig nen Bachelor in Psychologie?" geht er der Sache argwöhnisch nach und Anthony entwischt ein verlegenes Lächeln. "Nein. Es ist nur..Ich kenn sowas. Ziemlich gut. Und du weißt schon...großsätzig."

Dass ihr mir bloß nichts versprecht [Roman]Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum