Kapitel 24

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Kathi

Ich habe Angst. Angst um uns, hier in dieser Zeit. Ich weiß genau, wann der Krieg vorbei sein wird, ich weiß vieles so genau, was passieren wird. Und trotzdem hört diese schreckliche Angst um unser Leben nicht mehr auf. Und jetzt wo ich weiß, dass Oskar sein Leben riskiert, nur um zu beweisen, dass er nicht mehr komplett auf der Seite der Nazis steht. Gott, er setzt sein Leben aufs Spiel! In einer Zeit, die nicht uns gehört. Ich liebe meinen Bruder, egal was er tut, aber ich will nicht, dass er sich für so etwas Dummes in Gefahr bringt. Dann soll sie eben denken, er sei nicht auf unserer Seite.

Ich wälze mich herum und starre letztendlich doch bloß an die Decke. So langsam werde ich verrückt. Ich möchte nach Hause, zu meinen Eltern. Ich vermisse sie so unendlich und ich will sie wieder in meine Arme schließen, auch wenn sie uns das Leben nie einfach gemacht haben. Aber ich vermisse auch meine Freunde, ich hatte nie viele Freunde, aber die, die ich hatte, vermisse ich unglaublich.

Neben mir bewegt sich mittlerweile auch Peter. "Bist du wach?", flüstert er fast unhörbar in die Dunkelheit. Leise bejahe ich seine Frage. Ich höre, wie er aufsteht und das Licht an macht. Das helle Licht blendet mich und ich verkrieche mich unter meiner Decke. Ich will nicht, dass dieser Tag anfängt. Ich will einfach nur noch im Bett liegen, für immer, oder bis ich zurück in meine Zeit katapultiert werde. Auch wenn ich mich hier grundsätzlich wohl fühle.

***

Erstaunlicherweise vergeht der Tag schnell, obwohl ich wirklich nichts gemacht habe. Ich hocke auf dem Sofa vor dem flimmernden Fernseher und beobachte, ohne wirklich wahrzunehmen was passiert, die kleinen schwarz-weißen Männchen, die von einer Seite zur anderen laufen und scheinbar etwas sehr Wichtiges zu tun haben, so im Gegensatz zu mir. Ich habe immer versucht stark zu sein, die anderen mit meiner unbändigen Stärke und Optimismus zu blenden, aber was ist heute aus mir geworden? Ein 1.74m großes Häufchen Elend, dass sich selbst bemitleidet, ohne, dass etwas schlimmes passiert ist. Ich beginne mich immer mehr zu fragen, ob es nur mir so geht, oder ob Oskar den gleichen Gedanken hat, ihn einfach nur sicher in der hintersten Ecke seines Kopfes verwahrt. Sicherlich nicht. Ich bin bestimmt einfach nur zu weich, denke ich zumindest.

Irgendwann höre ich, wie die Tür geöffnet wird und schaue auf. Es ist sicher nur Peter, der von einem Swing-Abend zurückkommt. Ich war heute nicht dabei, weil ich mich nicht gut gefühlt habe. In meinen Gedanken bin ich noch immer woanders. Peter begrüßt mich, indem er mir durch meine Haare wuschelt. Er weiß ganz genau, dass ich das abgrundtief hasse.

Ich balle eine Faust und schlage ihn gegen den Oberschenkel. Er zischt und muss im gleichen Moment anfangen zu lachen. Er hängt seine Jacke an den Haken und lässt sich neben mich auf das Sofa fallen.

"Geht es dir besser?"

Ich nicke schlicht. Er setzt sich ein Stück näher an mich heran und legt seinen Arm um mich. Irgendwie tut diese stille Nähe total gut. Ich fühle mich direkt befreiter, ohne ein Wort gesagt zu haben.

"Jetzt sag', was ist los? Du bist immer so bedrückt.", seine Stimme ist so sanft, als würde er zu einem zerbrechlichen kleinen Kind reden. Mein Herz bleibt stehen. War es wirklich so auffällig? Vermutlich schon. Ich habe nie Swing-Abende abgelehnt. Außerdem leben wir seit Wochen unter einem Dach, natürlich bekommt er es mit, wenn es mir nicht gut geht.

"Ich, nun ja, ich vermisse meine Familie. Sie sind nicht hier und ich werde sie vermutlich niemals wiedersehen. Das macht mich unendlich traurig, weil ich einfach nicht hierhergehöre! Es ist nicht so, als würde ich euch nicht mögen, aber sie sind meine Familie und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass sie nicht hier sind. Ich vermisse einfach unsere Gespräche, die wir abends geführt haben, weil ich total im Stress war, oder ich mich mal wieder mit meinem Bruder gestritten habe.", ich merke, wie ich hochrot werde und die Tränen zurückhalte. Auch, wenn ich es hasse, es tut gut, es ihm zu erzählen.

"Meine Familie ist einfach mein Fels in der Brandung, sie sind die, die mich immer beschützt haben. Sie sind die, die mich immer ertragen haben, auch wenn ich unerträglich war. Sie haben mich immer fair behandelt, auch wenn ich unfair war. Und sie haben mich nie spüren lassen, dass ich nicht so klug war wie mein Bruder.", und in genau diesem Moment brechen alle Dämme. Ich kann nicht mehr, ich vermisse sie und ich will zurück zu ihnen, weil ich sie liebe.

Peter sitzt einfach da, hört mir zu und drückt mich. Er gibt mir Beistand, ohne, dass er was sagt. Ich fange an, bitterlich zu weinen. Zwischenzeitlich habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und jede Sekunde an meinen Tränen zu ersticken.

"Ich...", beginne ich, werde aber jäh von Schluchzern eingeholt. "vermisse sie. Ich liebe sie."

Plötzlich wendet er sich zu mir und gibt mir vorsichtig einen Kuss auf den Mund. Ich bin komplett verwirrt, stoße ihn aber auch nicht von mir. Ich genieße das Gefühl von Sicherheit in diesem Moment. Als er sich von mir löst schaut er mir tief in die Augen.

"Ich weiß, dass ich dich nicht zu ihnen oder sie zu dir bringen kann, aber ich möchte versuchen, dir eine Familie zu sein. Natürlich kann ich sie niemals ersetzen. Das kann ich nicht und das werde ich nicht, aber ich will für dich da sein, dich in deinem Tun unterstützen und meine Zeit mit dir verbringen. Ich werde alles tun, damit es dir zukünftig wieder besser geht.", die Sanftheit in seinen Worten lassen mich erneut weinen. Wie süß ist das bitte?

Zwischen den Schluchzern und dem Weinen nicke ich und falle ihn um den Hals. Er klopft mir vorsichtig auf den Rücken. Als ich zu ihm hochschaue, sehe ich, wie er sanft lächelt. Nur wenige Minuten später schlafe ich ein.

1941- Zwischen Verrat und FamilieWhere stories live. Discover now