Kapitel 22

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Kathi

Hat er das wirklich gesagt? Ich glaube schon. Woher weiß er von ihr? Was hat er vor? Ich bin verwirrt.

"Margrit. Ich möchte helfen wo ich kann, Schwesterchen. Ich habe einen riesigen Fehler begangen, das weiß ich jetzt. Und ich möchte nicht, dass das noch so weiter geht. Ich hasse sie zwar alle, alle Juden, aber ich habe Dinge gesehen, die alles andere als gut waren. Das Einzige, was ich möchte ist, dass Hitler aufgehalten wird.", ich schaue zu meinem Bruder hoch und sehe Ehrlichkeit in seinen Augen. Also nicke ich bloß und ziehe mich an. Peter gibt mir einen Handkuss und verabschiedet sich von mir.

Schweigend gehe ich neben Oskar her. "Os?", fange ich an, als wir fast die Gasse erreicht haben. "Sie ist... schwierig. Lass dich nicht von ihr provozieren."

Ich schaue mich um, laufe in die Gasse, öffne die Tür und schubse Oskar rein, der sich prompt den Kopf an dem Türrahmen anschlägt. Ich zische, dann ziehe ich schnell die Tür hinter uns zu. Ich schaue mir seinen Kopf an, aber da ist nichts außer einer Beule. Am Ende des Ganges brennt noch immer ein Licht, sie ist also noch immer wach. Schwach klopfe ich an ihre Tür und sie schaut auf, zuerst angsterfüllt, doch dann macht sich ihr Pokerface wieder breit.

"Solltest du nicht bereits im Bett liegen, Kathi?", fragt sie mit sarkastischem Ton.

"In der Tat lag ich sogar schon im Bett, aber dann ist jemand... durchaus wichtiges für dich aufgekreuzt.", Oskar schiebt sich an mir vorbei, dabei wirkt er verunsichert und winkt ihr leicht zu. Ich muss mir ein Lachen verkneifen, der sonst so selbstsichere Nazi- Aufseher steht verunsichert vor einer Frau, die viel kleiner und schwächer ist als er, nicht zu vergessen, dass sie sogar weniger sieht als er.

Aber das ist Oskar wie ich ihn kenne. Ein viel zu großer, hochintelligenter Junge, der Angst davor hat, etwas falsch zu machen. Wie oft er deswegen schon ausgelacht wurde. Über die letzten Monate war er nicht mehr er selbst. Aber jetzt ist er wieder zurück.

"Warum hast du ihn hergebracht? Er ist unser Gegner, kein Freund, den man zum Tee einlädt.", antwortet Monika aufgebracht. Ich kann sie verstehen, sie ist eine gesuchte Widerständlerin. Sie hat einfach Angst, dass man Oskar beauftragt hat, sie festzunehmen.

"Ich habe ihn nicht ohne Grund hergebracht. Er hat etwas zu sagen und ich denke, dass du dir das anhören solltest.", antworte ich und versuche sachlich zu bleiben. Ich gestehe, ich habe Angst vor ihr. Sie sieht immer so aus, als würde sie einen jede Sekunde umbringen und die Leiche irgendwo im Wald verstecken. Dabei ist die Angst total unbegründet, schließlich habe ich sie noch nie laufen sehen, ob sie überhaupt laufen kann? Sicherlich schon, aber was soll sie hier unten schon laufen? Neben mir räuspert sich mein Bruder.

"Ich möchte helfen.", Monika sieht ihn streng an, als würde sie auf mehr warten, als diese Feststellung. Zum ersten Mal sehe ich Verwirrung in ihrem Gesicht. "Woher dieser Sinneswandel? Soll das eine Falle sein?"

Jetzt ist Oskar verwirrt. Sein Blick wandert zu mir, wo ich ihn bloß anlächle, dann schaut er zu Monika und schüttelt heftig mit dem Kopf.

"Um Himmels Willen, nein! Ich möchte wirklich helfen. Ich... ich habe zu lange eine Illusion gejagt. Es war ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ich hatte Leute um mich, die mich mochten, die sich angefühlt haben wie Freunde. Eine Familie von ihnen hat mich bei sich wohnen lassen, mir Arbeit besorgt. Die Propaganda, ich konnte sie nicht mehr abschalten. Sie haben mich glauben lassen, dass das gut ist. Und Gott, wenn ich eine Sache ändern könnte, dann wäre es, dass ich die Zeit umkehre und niemals zu dem HJ Treffen gehe, dass ich mich niemals mit Hans anfreunde. Jetzt hör auf, ich weiß, dass es ein riesiger Fehler war. Ich will helfen, um jeden Preis!", Oskar zittert am ganzen Körper, ich habe nach seiner Hand gegriffen und drücke sie. Seine Atmung ist unkontrolliert schnell, aber er lässt sich nicht beruhigen.

Monika sitzt nach wie vor streng auf ihrem Platz, schaut mit ihrem gesunden Auge Oskar an. Dann macht sich sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht breit, doch sagt sie nichts. Sie faltet lediglich ihre Hände. Oskar macht eine fragende Handbewegung und lässt seine Hände geräuschvoll an seine Seiten fallen. "Also?"

Sie neigt ihren Kopf und grinst immer breiter. "Woher weiß ich, dass du das jetzt nicht nur sagst, damit du nicht auffliegst? Woher weiß ich, dass du keinen Pakt mit anderen Nazis abgeschlossen hast, um mich in eine Falle tappen zu lassen?"

Ich atme genervt aus. Gut, sie ist misstrauisch, aber das ist doch langsam überzogen. "Es steht kein einziger Nazi vor der Tür, ich denke, dass dies Beweis genug ist, nicht wahr?", höre ich meine Stimme, bevor ich nachdenke, was ich da eigentlich sage.

"Du holst jemanden aus dem Lager. Erst dann hast du mein vollstes Vertrauen.", sagt sie mit einer solchen Gelassenheit, dass ich denke, sie wolle uns auf den Arm nehmen. Aber nein, sie meint es komplett ernst. Oskar nickt zwar, aber ich bin mir sicher, dass ihn ihm gerade ein Sturm aus Fragen und Zweifeln tobt. Seine kleine Falte zwischen den Augen bildet sich derweil. Dann fährt er sich kurz durch die Haare und nickt noch einmal.

"Das Lager soll ab übermorgen unter Quarantäne stehen, eine Typhusepidemie.", denkt Oskar laut nach. "Das Krankenlager quillt über. Jeder fehlende Arbeiter fällt auf. Momentan ist es so gut wie unmöglich, jemanden rauszubekommen. Es sei denn...", es sieht aus, als würde er den perfekten Plan aushecken. "Ab nächsten Monat werden einige von ihnen durch Injektionen ermordet. Darüber muss sicherlich Liste geführt werden! Vielleicht kann ich jemanden auf diesen Listen auftauchen lassen, der gar nicht tot ist. Vielleicht kann ich ihn so rausschmuggeln."

Wir schauen uns an. Wir haben mal an einer Führung durch die Gedenkstätte des KZs gemacht, da wurde uns erzählt, dass es eine Typhusepidemie von Dezember 1941 bis März 1942 gab, weshalb das Lager unter Quarantäne gestellt wurde. Im Januar wurden einige der Betroffenen mit einer Injektion umgebracht. Oder werden? Alles ist so kompliziert.

Monika schreibt etwas auf einen Zettel und reicht ihm Oskar. Auf ihm steht die Nummer 12021 und der Name Karl Hermann Pech darunter steht gekritzelt "Kommando Elbe".

"Er ist ein Freund von mir, vielleicht bekommst du ihn da raus."

1941- Zwischen Verrat und FamilieWhere stories live. Discover now