Kapitel 9

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Oskar

Während die einen sagen, dass Nazis von Grund auf schlecht waren, sagen die anderen, dass Nazis von Grund auf gut waren. Doch ich bin der Auffassung, dass man sich ein eigenes Bild davon machen muss. Schwierig, wenn es zu unserer Vergangenheit gehört. Ich bin dankbar, dass ich es mir aus nächster Nähe ansehen darf. Ich versuche, Menschen nicht in Schubladen zu stecken. Die Kunst ist es, die Menschen zu analysieren. Jeden Schritt, jede Geste, jedes Wort und jedes Wimpernzucken. Und aus allem ein genaues Bild zusammenzufügen. Ich für meinen Teil habe Hans genauestens analysiert. Seine strammen Schritte, wenn er geht, seine hektischen Bewegungen, wenn er etwas erzählt, seine laute und raue Stimme, wenn er schreit und seine glitzernden Augen, wenn er etwas unbedingt machen will. Aus allem habe ich festgestellt, dass er nicht schlecht ist. Er war gut. Alles was an ihm gut war, wurde vernichtet, wie eine lästige Ratte in der Vorratskammer. Alle Menschen, die sagen, dass Nazis von Grund auf schlecht waren, analysieren nicht richtig. Genau das ist das Problem mit den Menschen. Sie analysieren nicht richtig, denn Nazis sind nicht alle schlecht. Wenn ich in den Geschichtsbüchern stehe, dann nicht als böser Mensch, sondern als guter Mensch. Denn ich bin nicht schlecht. Ich bin gut. Und ich tue alles was nötig ist, um das Vaterland zu beschützen. Alles, auch wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Kathi

Ich gehöre einem Widerstand an. Jedes Mal, wenn dieser Satz durch meinen Kopf schießt, bekomme ich eine Gänsehaut. Wer hätte gedacht, dass ich jemals den Mut besitzen würde, etwas zu tun, was gegen den Strom geht. In meiner Zeit ist es mir schwergefallen, mich anders anzuziehen, meine Meinung zu äußern oder etwas ohne meinen Bruder zu machen. Mittlerweile weiß ich, dass ich einfach nicht ich war. Dass ich immer nur dabei sein wollte, dazu gehören wollte. Die Zukunft ist definitiv nicht meine Zeit. Die Vergangenheit. Das ist meine Zeit. Ich bin einfach ich.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich hier bin. Warum es dann mein Bruder mit hierhergeschafft hat, ist ein Fall für sich. Mein Bruder, der immer seine Meinung äußern konnte, immer seinen eigenen Stil verfolgt hat, verwandelt sich immer und immer mehr zu einem Mitläufer. Nicht, dass Mitläufer etwas Schlechtes sind. Ganz im Gegenteil. Nur, dass mein Bruder ein schlechter Mitläufer ist. Mein Bruder wird zu einem Nazi Mitläufer.

Waltraud und ich bereiten das Essen vor. Trotz der Meinungsverschiedenheiten, machen wir auch für Oskar Essen. Waltraud will den Schein wahren, während ich ihn hochkant rausgeworfen hätte. Aber Waltraud hat recht, wenn sie sagt, dass das zu auffällig wäre.

"Er ist immer noch dein Bruder, Kathi. Vielleicht ändert er sich wieder.", ihre Stimme ist ruhig, ihre Bewegungen noch immer koordiniert. Auch wenn sie Anfang siebzig ist, verhält sie sich wie Mitte dreißig.

"Ich weiß, ich weiß. Aber es macht mich so wütend! Wann ist er so... unausstehlich geworden?", meine Stimme ist schrill und laut. In Waltrauds Gesicht bildet sich ein wissendes Lächeln.

"Hach ja, wie gerne ich nochmal so jung wäre wie ihr.", ein leises Lachen entfährt ihr.

Wir decken gemeinsam den Tisch. Kurz darauf kommt Oskar rein. Ich verziehe mein Gesicht. Waltraud legt eine Hand auf meinen Rücken. Oskars blaue Augen starren mich eiskalt an. Er presst seine Zähne so sehr aufeinander, dass seine Muskeln zu zucken. Ich atme scharf ein und laut wieder aus. Er stützt sich mit beiden Händen auf der Stuhllehne ab. Ich ahne es. Er wird mich ansprechen.

"Kathi.", mehr nicht. Einfach mein Name. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Der Klang seiner immer kälter werdenden Stimme lässt mich leicht zusammenfahren.

"Nein, Oskar. Einfach nein.", meine Stimme ist brüchig. Gott, wie gerne ich ihm alle Beleidigungen, die sich gerade in mir aufstauen, an den Kopf werfen würde. Aber ich weiß, wie unnötig das wäre. Ich laufe dicht an ihm vorbei und schlüpfe in mein Zimmer. Mit einem lauten Knall fällt meine Tür ins Schloss. Sofort presse ich mich mit meinem Rücken dagegen.

Meine Knie sind weich und zittern. Mit einem lauten Seufzer lasse ich mich hinuntergleiten. Dieser Junge raubt mir den letzten Nerv!

"Katharina!", Oskars Stimme ist lauter denn je. Sicherlich steht er direkt vor meiner Tür. Dann schlägt jemand mit der flachen Hand unentwegt dagegen. Ich ziehe meine Knie an mein Kinn.

"Kathi, mach die Tür auf!", seine Stimme wir immer schärfer und lauter. Ich befürchte, dass er es schaffen könnte, meine Tür mit ihrem bloßen Klang in zwei zu teilen.

"Nein. Wenn ich eins nicht tue, dann diese Tür zu öffnen! Sie ist das einzige, das mich noch vor diesem Monster schützt!", ich klinge kindisch. Wenn er wollte, würde er sie mit einem einzigen Tritt aufbekommen. Wir sind seit drei Wochen hier. Und ich habe schon Angst vor meinem eigenen Bruder. Er ist einfach nicht mehr er. Was passiert dann in einem Monat? Traue ich mich nicht mehr vor die Tür, weil er mir auflauern könnte? Weil er mich verhaften könnte?

"Mann, Kathi. Mach die scheiß Tür auf, sonst komme ich einfach rein. Ich will nur mit dir reden.", seine Stimme wird ruhiger. Das ist er! Das ist mein Bruder Oskar. Ich erhebe mich vorsichtig. Erst stütze ich mich noch mit meiner linken Hand an der Klinke, mit der rechten Hand an der Tür ab. Dann öffne ich sie. Ich schaue ihn wütend an. Seine Gesichtszüge sind weich. Alles, was eben noch böse an ihm war, ist seiner netten Seite gewichen.

"Was?", ich schnauze ihn an. Er zwängt sich an mir vorbei, schließt die Tür hinter sich und setzt sich auf den Fußboden.

"Kathi, ich... es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich...", er schaut an mir hoch, sein Blick bleibt an meiner Kette hängen. "Von wem ist diese Kette? Wo hast du die her?"

Und plötzlich ist seine Stimme wieder messerscharf. Er springt wieder auf, will meine Kette zwischen die Finger nehmen, doch ich weiche ihm aus. Er nickt wissend.

"Sie kommt von dem Swing Jungen, oder? Vergiss, was ich gesagt habe, Schwester. Vergiss es einfach."

"Ich wusste es. Ich wusste, dass du nicht mit mir reden würdest. Du bist nicht mehr du. Du versteckst dich hinter einer gottverdammten Maske. Du bist zu einem Schauspieler geworden, um alle um dich herum zu manipulieren. Und das nach drei Wochen. Das hätte ich nicht von dir erwartet."

1941- Zwischen Verrat und FamilieWhere stories live. Discover now