Kapitel 18

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Oskar

Der Tag ist gekommen. Der erste Tag als Aufseher. Mit Leichtigkeit ziehe ich mir die Uniform an, welche sich unendlich angenehm auf meiner Haut anfühlt. Noch nie habe ich mich in einer Kleidung so wohl gefühlt wie in dieser. Sie umhüllt mich wie eine warme Decke, die man niemals verlassen möchte. Es ist noch komplett still im Haus, was wohl daran liegt, dass ich ziemlich aufgeregt bin und in aller herrgottsfrühe aufgestanden bin. Erst allmählich, als ich schon lange im Wohnzimmer hocke und ein Buch lese, regt sich etwas im Haus. Ich höre schwere Stiefel die Treppe hinabstapfen

"Heil Hitler, Kamerad.", begrüßt Hans mich. Seine Augen sind leicht angeschwollen und fast geschlossen. Er ist gestern spät zu Bett gegangen, wie er berichtet. "Aufgeregt?", bringt er zwischen zwei Gähnern hervor. Ich nicke bloß, mir ist gerade nicht nach Reden zumute. Mit einem dumpfen Knall lege ich das Buch zur Seite, in welchem ich zwar seit einer Stunde lese, aber nur 15 Seiten geschafft habe, weil ich so gut wie gar nicht konzentriert bin.

"Um ehrlich zu sein, ich habe Angst. Was, wenn ich nicht gut genug bin?", frage ich und starre in Hans' blaue Augen. Zum ersten Mal erkenne ich, dass sie nicht schlicht blau sind, sondern blau, welches auf ein strahlgrau treffen, mit weißen Sprenkeln. Man sagt, dass die Augen das Tor zu Seele sind, früher habe ich dem nie zugestimmt und es mit einem Lachen abgetan, doch in seinem Fall stimmt es. Man kann aus seinen Augen immer seine Gefühle lesen, sehen ob er lügt oder die Wahrheit sagt. Es ist sein Tor, zu seiner Seele. Einer Seele, die niemals komplett schwarz war. Sie war weiß und wird durch seinen Vater immer und immer mehr schwarz.

"Sag' sowas nicht, Oskar. Du bist mehr als nur geeignet dafür.", seine Stimme klingt ruhig, doch im Unterton schwingt Druck mit. "Du bist einer der Besten. Sonst würdest du nicht mit gerade einmal 18 Jahren dort arbeiten dürfen. "

Er hat Recht. Aber Angst haben tue ich trotzdem. Nachdem wir gefrühstückt haben, ich mich mit einem Kuss von Margrit verabschiedet habe, werde ich abgeholt. Noch habe ich schließlich keinen Führerschein und Ludwig kann mich nicht auf Dauer fahren. Ich stehe in der Tür und nicke Hans zu. Auf seinen Lippen liegt ein leichtes Lächeln. Ist es Stolz? Ist es Gehässigkeit? Ich kann es einfach nicht deuten.

"Ein letzter Ratschlag?", frage ich ihn lachend. Er nickt, während er einen Schritt auf mich zu macht und legt eine Hand auf meine Schulter. "Sei der, vor dem sie am meisten Angst haben."

Direkt nach meiner Ankunft werde ich zu den anderen Aufsehern gebracht. Sie alle sind viel älter als ich, mindestens 15 Jahre. Nur einer ist fünf Jahre älter. "Endlich einer, der noch jünger ist als ich!", ruft er, als er mich sieht "Du bist also der Sprössling, dem sie uns zugeteilt haben."

Ein ungutes Gefühl keimt in mir auf, als ich ihn ansehe. Er macht nicht den Eindruck, dass er überaus freundlich ist, aber wer ist das schon? Niemand, zumindest nicht hier im Lager. Als er direkt vor mir steht, reicht er mir die Hand. Ich ergreife sie und schüttele sie kurz.

"Rüdiger Böhm, Sturmmann.", stellt er sich kurz und knackig vor. Ich muss ein wenig runterschauen, er ist vielleicht 1.70 groß. Doch seine Ausstrahlung ist größer, mächtiger. Er hat rötliche Haare, dazu grüne Augen. Einer der einzigen Rothaarigen, die mir hier begegnet sind.

"Oskar Müller.", entgegne ich. Er prustet los. So langsam frage ich mich, was er eingeworfen hat.

"Ich führe dich kurz rum, ja?", ich nicke, während er vorläuft. Dann dreht er sich um zeigt mit einer fahrigen Bewegung an mir hoch und runter. "Du bist groß, was hat deine Mutter dir zu Essen gegeben? Das würde ich auch gerne haben, vielleicht wachse ich dann ja doch noch."

Wir gehen von dem Gelände runter, nur um anschließend durch den rechtmäßigen Eingang wieder das Gelände zu betreten. Vor uns erstreckt sich der Appellplatz, links von uns die riesigen Baracken, vor uns die Küchenbaracke. Es sieht alles so... anders aus. Rüdiger erzählt irgendetwas, doch ich höre ihm gar nicht zu. Ich betrachte mit Erstaunen das Lager um mich herum, wie anders es aussieht. Irgendwann bleiben wir stehen, er schaut mich erwartungsvoll an.

"Also? Kommando?", fragt er scheinbar erneut. Peinlich berührt schaue ich ihn an. Er lacht. "Ich habe gefragt, ob man dir Bescheid gegeben hat, welches Kommando du überwachen sollst?"

"Ich, äh.", fange ich an und versuche mich mit allen Mitteln daran zu erinnern, welches Kommando mir zugeteilt wurde. "Kommando Elbe, meine ich."

Dann fängt er schon wieder an zu lachen. Wirklich, warum lacht er die ganze Zeit? Habe ich vielleicht einen Fleck auf meiner Wange? "Dann folg' mir, ich überwache auch das Kommando Elbe.", wir gehen ein Stück weiter über den Appellplatz, um dann links abzubiegen und zu der riesigen Baustelle zu gehen. Hunderte Häftlinge arbeiten zeitgleich in der Vertiefung. Plötzlich hören wir einen lauthals schreien. Seine eiskalte Stimme durschneidet die Kälte, lässt alle um uns herum wie vereist stehen bleiben. Es ist ein anderer Aufseher, der lauthals einen Häftling anbrüllt. Er scheint nicht schnell genug zu arbeiten, was unweigerlich an seinem gesundheitlichen Zustand liegt. Nicht zu schweigen von dieser schlechten Kleidung.

Dann hebt der Aufseher seinen Arm, in der Hand eine Pistole. Der Häftling schaut in den Lauf und dann ertönt ein Knall. Der Häftling sackt in sich zusammen und kommt auf dem Boden auf. Wie gebannt schaue ich mir das Geschehen an. Wie der Aufseher noch wie belanglos eine Handbewegung macht und zwei andere Häftlinge ihn wegschleppen.

"Das ist Günter Ackermann, Obersturmbannführer. Er ist bei den Häftlingen am meisten gefürchtet, vor allem, weil er ohne zu zögern jene tötet, die wir nicht mehr brauchen.", ein Schauer läuft mir den Rücken hinab. Dieser Mann wäre so oder so in den nächsten zwei Tagen gestorben, da hätte man nicht mehr nachhelfen müssen, auch wenn das fast schon eine Erlösung war.

Langsam aber sicher macht sich Erfüllung in mir breit. Das ist das, was ich mir gewünscht habe. Diese Häftlinge verdienen den Tod, durch solche Arbeit. Sie verdienen es einfach, umsonst wären sie nicht hier. Wir führen unseren Rundgang fort, aber nicht ohne das nervige Lachen von Rüdiger. Ich lerne den ein oder anderen Aufseher kennen, dessen Namen ich mir nicht merken kann.

Den restlichen Tag schaue ich Rüdiger noch etwas über die Schulter, bevor ich morgen auf mich gestellt bin. Gegen Mittag sitze ich mit den Aufsehern beim Essen. Die meisten sind wirklich nett und es macht Spaß, sich mit ihnen zu unterhalten. Sogar Günter ist freundlich.

"Schön, deine Bekanntschaft zu machen, Oskar. Ich kann niemals genügend Unterstützung haben. Wie kommst du denn zu solcher Arbeit, mein Freund?", seine Stimme ist genauso rau, wie sie sich vorhin in Rage angehört hat.

"Nun, ich möchte meinem Vaterland dienen und die Arbeit hier, hat mich ganz besonders gereizt, wenn Sie verstehen.", er lacht und klopft mir auf die Schulter.

"Lassen wir doch die Förmlichkeiten, wenn wir unter uns sind. Du bist noch so jung, es wird mir schwerfallen dich zu siezen.", dann wendet er sich seinem Essen zu. Rüdiger neben mir schlingt sich das Essen förmlich runter. Ich klopfe ihm auf die Schulter.

"Nicht so schnell. Nicht, dass du dich noch verschluckst!", und dann ist es auch schon passiert. Rüdiger verschluckt sich und beginnt zu husten. Dieses Mal muss ich lachen. Nachdem er sich beruhigt hat lacht auch er wieder. Wie ich das vermisst habe, denke ich zynisch.

Als ich am Abend wieder heimkehre belagert Hans mich förmlich. Er ist neugierig, zwingt mich, ihm alles zu erzählen. Er ist fast schon stolz, über das, was ich ihm erzähle.

Hans

Sein Tag war mehr als nur erfolgreich. Seine wunderschönen blauen Augen glänzen bei jedem Wort, dass er über seine Arbeit verliert. Ich verstehe ihn, ich wäre ebenso begeistert. Ich hätte niemals erwartet, dass er einst so ein überzeugter Nazi werden könnte, zunächst sah es schließlich so aus, als würde er niemals von dieser Ideologie überzeugt sein.

Ich bin stolz auf ihn, ich habe schließlich seine Wandlung mitbekommen. Von einem neutralen Jungen zu einem Lager Aufseher. Nichts könnte mich stolzer machen. Niemand könnte mich stolzer machen.

Ihm steht jede Tür offen, es sei denn, Margrit verschließt ihm jede Einzelne. Und das wird sie, weil sie ein Monster ist.

1941- Zwischen Verrat und FamilieKde žijí příběhy. Začni objevovat