Kapitel 11

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Oskar

"Darf ich vorstellen, das ist Oskar Müller, Vater. Du kennst ihn sicherlich schon. Oskar, das ist mein Vater Hauptsturmführer Ludwig Schulze.", seine komplette Haltung ist anders als sonst. Er ist steif, angespannt und wirkt so, als würde er bei der kleinsten falschen Bewegung eine Kugel in den Kopf bekommen.

"Es ist mir eine unbeschreibliche Ehre Bekanntschaft mit Ihnen machen zu dürfen, Hauptsturmführer Schulze.", ich strecke ihm meine Hand entgegen. Er ergreift sie.

"Mir ebenfalls, Oskar. Mein Sohn hat mir erzählt, dass du dich gut schlägst und innerhalb kürzester Zeit ein hohes Ansehen unter den anderen Jugendlichen gewonnen hast. Und, dass du Anwärter auf die SS bist. Gute Entscheidung."

So langsam wird er mir richtig sympathisch. Er redet viel, stellt scheinbar wenig Fragen. Das bedeutet für mich, dass ich ihn besonders lange beobachten kann.

"Wohin soll dich denn dein Weg führen?", darüber habe ich mir in der Tat noch gar keine Gedanken gemacht.

"Lager- SS, wahrscheinlich.", eine schlichte Antwort. Hoffentlich fragt er nicht weiter nach.

Er nickt einfach. Dann holt er Papier und Stift aus einer Schublade und setzt sich an den gewaltigen Schreibtisch in der Mitte des Raumes.

"Gut, gut. Wenn die ganzen Formalitäten geregelt sind, dann werde ich ein paar gute Worte für dich einlegen."

Ich bedanke mich schließlich und Hans und ich verlassen den Raum. Er zwingt mich indirekt, dass ich zum Essen bleibe. Nicht, dass er mich zwingen muss, ich bin schließlich um jede Sekunde froh, die ich nicht bei Kathi und Waltraud verbringen muss, aber ich will ihn nicht glauben lassen, dass meine Zeit nicht kostbar ist.

Wir sitzen am Tisch, auch Herr Schulze hat sich hinzugesellt und unterhalten uns angeregt über Juden. Umso mehr ich höre, desto größer wird meine Abneigung ihnen gegenüber. Wir sind mitten in unserem Gespräch versunken, als Frau Schulze mitsamt einer jüngeren Frau, wahrscheinlich Hans' und meines Alters, hineintritt.

"Also wirklich, Liebling, jetzt lass die Arbeit doch auf der Arbeit. Und erzähle den Jungen nicht so viel davon. Margrit, setz dich doch bitte.", Frau Schulze ist eine etwas molligere Frau, die etwas in die Jahre gekommen ist, aber dennoch nicht an Ausstrahlung verloren hat. Ich mustere sie. Ihre Gesichtszüge kommen mir mehr als bekannt vor. Dann realisiere ich es Stück für Stück. Sie ist, oder besser gesagt wird, Aufseherin in einem Frauen Konzentrationslager sein. Ein mulmiges aber ebenso großartiges Gefühl inmitten waschechter Nazis zu sitzen, in deren Zeit und alles von ihnen zu hören, und nicht von irgendwelchen irren Geschichtslehrern.

Ebenso während des Essens reden wir weiter. Auch Frau Schulze schließt sich dem heiter an. Bloß Fräulein Margrit Schulze sitzt wie erstarrt an ihrem Platz. Sie sitzt mir direkt gegenüber und schiebt sich dezent angespannt ihr Essen in den Mund. Sofort packt mich das Bedürfnis, sie ansprechen zu müssen. Sie hat längere Haare als die meisten hier, etwa Brustlang, und fast schwarzes Haar wie ihre Mutter, doch helle grüne Augen. Woher sie die hat ist eine gute Frage, denn Frau sowie Herr Schulze haben blaue Augen. Sie fesselt mich mir ihren angespannten, aber dennoch eleganten Bewegungen.

Ich strecke mein Bein zaghaft nach vorne aus und stupse Margrit sacht an. Sie schrickt hoch, schaut mich mit aufgerissenen Augen an. Ich lächle sie etwas schelmisch an. "Verzeihung, Fräulein Schulze.", gebe ich kleinlaut von mir. Gespielt, wie sich versteht. Ich Augen verengen sich zu Schlitzen. Mit einem Nicken tut sie es ab.

Nach dem Essen verabschiede ich mich, schließlich will ich ihre großartige Gastfreundschaft nicht überlasten. Ich bin gerade dabei das Wohnhaus zu verlassen, da ruft Margrit.

"Oskar! Warte doch, ich muss auch noch weg! Würdest du mich ein kleines Stück begleiten?", ihre Stimme ist aus Gold, wohlklingend wie ein kleines Vögelchen im Frühjahr.

"Aber selbstverständlich, Fräulein Schulze.", ich stehe im Eingang wie eine Dekoration. Erst als Margrit zu mir tritt, finde ich einen Sinn.

"Nenne mich doch bitte Margrit. Fräulein Schulze klingt so förmlich. Was ein wunderschöner August Abend, nicht wahr? Kaum zu glauben, dass der September naht und die Wärme schwindet. Ich finde ja, dass der Sommer die schönste Jahreszeit ist. Wie stehst du dazu?", plappert sie drauflos.

Etwas verwirrt öffne ich den Mund. "Ich, also, ähm. Ich mag die Wintermonate am liebsten. Das graue und triste Wetter tut meinem Gemüt gut. Am liebsten sitze ich im Winter mit einem guten Buch vor dem Kamin und lese bis in die tiefen Abendstunden."

Mit einem Seufzen beende ich meinen Satz. Es ist mein größtes Hobby Romane und Biografien über den Nationalsozialismus zu lesen, aber in dieser Zeit ist es so gut wie unmöglich, dafür erlebe ich es höchstpersönlich. Eine Chance, die sicherlich fast niemand bekommt und meine geliebten Bücher sind der Preis. Ein Preis jedoch, den ich bereit bin zu zahlen.

Viele Schritte, einige Minuten und ein nettes Gespräch später finde ich mich vor meiner Wohnungstür wieder. Margrit sieht mich durch aufgeschlossene und freundliche Augen an.

"Ich muss noch etwas weiter, ich wünsche dir einen angenehmen Abend, Oskar.", ein sanftes Lächeln liegt auf ihren Lippen, doch irgendetwas an ihr lässt mich darauf schließen, dass sie etwas vorhat.

"Auch dir einen wunderschönen Abend, Margrit.", erwidere ich und lächle sie verstohlen an.

Gespielt und ungeschickt knickst sie vor mir. Mir entfährt ein tiefer Lacher, dann verbeuge ich mich. Sie dreht sich um und will gehen.

"Aber, dass wir und wiedersehen, Oskar!", ruft sie mir noch zu.

"Natürlich!", rufe ich hinterher, aber ich denke, dass sie mich nicht mehr hören kann, denn sie ist hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Margrit

Meine Füße tragen mich die letzten acht- oder neunhundert Meter zum Alsterpavillon. Meine Knie sind am Zittern und ehrlicherweise habe ich panische Angst vor meiner Aufgabe.

"Margrit, du wirst dich um den Jungen, Oskar Müller, kümmern, verstanden? Du bist ein wunderschönes Mädchen, Margrit, du brauchst sicherlich keine Anweisung, wie du dich um ihn kümmern musst, oder?", so hatte es Monika gesagt.

Ihre Worte hallen immer und immer wieder in meinen Ohren wider. Warum ich? Hätte ich mich nicht um das Mädchen kümmern können? Ich habe kein Interesse an so einem Nazi, ihm Hoffnungen zu machen ist alles andere als schicklich. Außerdem habe ich Angst vor ihm. Er hat eine so gewaltig strenge Ausstrahlung, dass sogar in den Augen meines Vaters eine Art Respekt zu erkennen war.

Ich kann den Alsterpavillon bereits sehen. Vor ihm stehen schon Leute. Sicherlich auch Peter und Kathi. Ich erkenne die Haarschöpfe der beiden. Ich trete direkt neben sie.

"Heilt Hitler.", sage ich so leise, dass nur wir es hören können.

"Bin ich denn ein Arzt?", erwidert Peter belustigt und umarmt mich. Ich trete zu Kathi und umarme sie ebenfalls.

Ohne weiteres betreten wir den Pavillon. Jedes Mal, wenn ich ihn betrete bin ich über dieses gewaltige Bauwerk erstaunt. So wunderschön. Ob es wohl den Krieg überstehen wird?

Drinnen ist schon unsere gesamte Gruppe und wartet auf uns. Peter und Kathi sind schon auf die Tanzfläche gelaufen. Er bringt ihr die Schritte bei, was wirklich nach einer Tortur aussieht, sie hat nämlich wirklich zwei linke Füße. Aber sie lachen und das ist das Wichtigste.

"Darf ich bitten?", eine Stimme neben mir. James der eigentlich Theodor heißt. Er ist drei Jahre älter als ich und mach sich seit einigen Monaten die Hoffnung, dass er und ich ein Paar werden könnten. Seine Hand hält er fordernd vor meine Schulter. Ich lege meine Hand in seine.

"Aber selbstverständlich, mein lieber James.", wir treten auf die Tanzfläche und beginnen zu tanzen und wir werden tanzen, bis Bomben Hamburg zerstören. Bis die Nazis alles zerstören, was und lieb und teuer ist. Bis die Nazis uns zerstören. Oder wir die Nazis zerstören.

1941- Zwischen Verrat und FamilieWhere stories live. Discover now