Kapitel 39

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Kathi

Ich schreite durch das Haus. Es ist riesig, hat mindestens sechs Schlafräume und vier Badezimmer. Als mir klar wird, dass dieses zweistöckige Gebäude in einem überschaubaren Zeitraum meines ist, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Ich hatte mir eigentlich immer vorgestellt in einer Großstadt zu studieren, in einem viel zu überteuerten WG-Zimmer zu wohnen und meinen Abend über meinem Laptop ausklingen zu lassen und dabei entweder zu pauken oder eine Serie zu sehen. Doch scheinbar ist das hier mein Schicksal. In einem riesigen Haus, mit meinem Freund und einem Medizinstudium. Nicht, dass das etwas Schlechtes ist, ganz im Gegenteil. Es ist so wunderbar. Es ist nahezu perfekt. Ich setze mich in das Wohnzimmer und genieße die Atmosphäre, die Günter hier geschaffen hat. Dieses Zimmer würde ich genauso eingerichtet lassen. Es ist perfekt. Morgen würde ich das Günter erzählen, in der Hoffnung, dass es ihn glücklich macht. Auch die Küche sieht wunderschön aus. Einfach alles hier ist perfekt und vermutlich ein Vermögen wert.

Irma reicht mir ein Glas Wasser und setzt sich zu mir. Sie muss Angst haben. Angst davor, dass wir sie auf die Straße setzen oder gar verraten. Sie räuspert sich. "Ihr lasst mich doch hier wohnen, du und dein blonder Freund, oder?"

Ich lache auf. "Hans ist nicht mein Freund. Aber Peter, mein Freund, und ich lassen dich hier natürlich wohnen. Wir werden dich nur nicht für deine Dienste bezahlen können. Aber du hast eine Bleibe und lebst hier nicht als Hausmädchen, sondern als unsere Freundin. Wenn das für dich in Ordnung geht."

In ihren Augenwinkeln sammeln sich Tränen, doch lächelt sie. "Danke, Kathi. Danke! Das ist mehr als ich mir wünschen kann. Nach dem Krieg werde ich Arbeit und eine neue Bleibe suchen, versprochen."

"Darüber brauchst du dir jetzt noch keine Gedanken machen, in Ordnung? Alles zu seiner Zeit.", sage ich leise. Dann sehe ich Hans die Treppen vom Keller hinaufkommen. Wir nicken uns zu. Es ist Zeit wieder zu fahren.

"Ich werde morgen mit meinem Freund herkommen, er soll dich kennenlernen. Wir wollen hier irgendwann auch ja auch einziehen. Pass auf meinen Bruder auf.", sage ich und tätschle ihre Hand. Sie nickt und winkt mir zum Abschied zu. Als Hans und ich im Auto sitzen, atmen wir beide laut aus. In seinen Augen sehe ich, dass die Dinge zwischen Oskar und ihm gut laufen. das freut mich ehrlich sehr. Die Beiden haben ihr Glück verdient. Dann fahren wir los und er lässt mich vor Peters Wohnung aussteigen. Ich danke ihm und er lächelt mir freundlich zu. Der Hans, den ich heute kenne, hat nichts mehr mit dem Hans von vor einigen Monaten zu tun. Er ist freundlich und tut alles für Oskar. Vielleicht hat er sich ausgerechnet deswegen verändert. Ich weiß es nicht, aber ich freue mich über seine positive Veränderung.

In der Wohnung stürze ich in das reinste Chaos. Peter und sein Vater laufen hektisch durch die Wohnung und sammeln Dinge zusammen. "Was ist denn hier los?", frage ich verwundert und lege meinen Mantel ab und stelle meine Schuhe feinsäuberlich zu Seite.

"Mutter bekommt das Baby, Vater bringt sie ins Krankenhaus.", sagt Peter mit einem Funkeln in seinen Augen. Er freut sich auf sein kleines Geschwisterchen. Und das, obwohl er so viel älter ist. Ich hätte mich sehr wahrscheinlich nicht mehr gefreut, mit 19 Jahren große Schwester zu werden. Dann geht alles schnell, Die beiden stürmen aus dem Haus und Peter und ich sind alleine zuhause. Mit Ausnahme seiner anderen kleinen Geschwister, die alle friedlich in ihren Betten liegen und im Traumland sind.

"Ich wollte morgen Günter besuchen, vielleicht finden wir dann auch deine Mutter?", sage ich fragend. Peter nickt. "Außerdem möchte ich morgen mit dir zu Günters Haus gehen. Du solltest es dir auch ansehen, jetzt wo wir demnächst ausziehen werden."

Er nickt lächelnd. Das war immer unsere Abmachung gewesen. Ich darf hier wohnen bleiben, bis das Kind kommt, danach sorge ich mich selbst um eine Bleibe für mich oder für uns. Dass es sich dabei um ein riesiges Haus handelt, konnte ja niemand ahnen.

Wir unterhalten uns noch ein wenig, lachen zusammen und gehen schließlich ins Bett. Zum ersten Mal seit Tagen, sinke ich schon nach kürzester Zeit in einen erholsamen und traumlosen Schlaf.

***

Wir betreten das Krankenhaus und halten uns an den Händen. Die Dame am Empfang sagt uns, dass wir zu Helga dürfen. Das Baby sei seit wenigen Stunden da. Wir klopfen leise an ihre Tür und werden hineingebeten. Das Baby liegt in eine blaue Decke gehüllt in dem Bettchen, Helga döst und Wilhelm sitzt auf einem Stuhl in der Ecke. Kurz nachdem wir die Tür geschlossen hatten, öffnet auch Helga ihre Augen.

"Peter, Kathi.", sagt sie erschöpft, aber mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. "Das ist Berno."

Peter stürzt förmlich zu dem kleinen Lebewesen und nimmt es auf den Arm. Bei vier, jetzt sogar fünf, kleinen Geschwistern hat er da ordentlich Übung. Lächelnd und mit dem Baby im Arm lässt er sich auf die Bettkante sinken. Helga steht langsam auf und geht ins Bad. Wilhelm verabschiedet sich, weil er zur Arbeit muss. Ich setze mich neben Peter und beobachte ihn mit Berno. Er sieht so glücklich aus.

"Ich möchte auch später so ein süßes Ding mein Eigen nennen.", flüstert er und streicht dem Baby über die Nase. Ich lächle. Zwar wusste ich, dass er Kinder wollte, aber nicht, dass es ihm scheinbar so wichtig war. Also nicke ich nur. "Aber nicht jetzt, wir wollen ja erst einmal dein Studium beenden."

Nach einer Weile lasse ich Peter und seine Mutter mit dem Baby alleine und besuche Günter. Er wird von Tag zu Tag schwächer, was mich sehr beunruhigt. Mittlerweile fällt ihm jedes Wort schwer und er rationiert seine sowieso schon kargen Worte noch mehr. Also texte ich ihn zu. Ich erzähle ihm davon, dass ich in seinem Haus war, dass es mir sehr gefällt, dass ich alles so lasse, wie es ist. Wie perfekt das Haus doch ist. Das entlockt ihm ein riesiges Grinsen. Er hatte vor Jahren, als er mit seiner Frau einzog, das Haus selbst eingerichtet und nie verändert. Er war stolz auf alles darin. Auf jedes einzelne Möbelstück. Dann erzähle ich ihm noch von Berno. Und wie niedlich er doch ist.

"Ich erinnere mich noch immer gerne an meine Tochter, als sie ein Baby war.", bringt er unter Schmerzen und abgehackt heraus. "Sie war ein Engel. Alle eigenen Kinder sind das."

Ich halte seine Hand. Dann biete ich ihm an, nach Bildern zu suchen, wenn er welche hat. Er stimmt zu. Vielleicht macht es ihm eine Freude, seine Familie auf Bildern zu sehen, so lange er im Krankenhaus liegt. Nach einer weiteren halben Stunde verabschiede ich mich von ihm und suche Peter auf, der sich noch immer mit seiner Mutter unterhält und Berno schaukelt. Also setze ich mich still dazu und trinke ein Glas Wasser, während die beiden sich leise unterhalten.

Als wir gehen wollen, sehen wir mehrere Ärzte, die auf die Innere laufen. Einer der Ärzte sieht mich und wirft mir einen mitleidigen Blick zu. Mein Puls beschleunigt sich. Ohne auf Peter zu warten, renne ich hinterher und höre nur noch entfernt seine Schritte hinter mir. Die Ärzte laufen in Günters Zimmer. Außer Atem erreiche ich den Türrahmen. Einer der Menschen im weißen Kittel beugt sich über Günter und schüttelt dann mit dem Kopf. Es ist der, der ihn am ersten Tag notoperiert hatte. Er winkt mich zu sich. Günters Brust hebt und senkt sich nur noch langsam. Ich drücke seine Hand und gehe in die Knie. Ich weine. Viele Tränen suchen sich ihren Weg zu Boden.

"Danke, Kathi.", flüstert er, dann entspannt sich seine Hand und seine Brust hebt und senkt sich nicht mehr. Er ist tot. Und meine Brust schnürt sich zu.

1941- Zwischen Verrat und FamilieWhere stories live. Discover now