Loslassen

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John PoV

Ein dumpfes, schmerzhaftes Pochen hallte bei jedem Herzschlag in meinem Kopf wieder, als säße jemand mit einem Hammer darin, der stetig gegen meine Schädeldecke klopfte. Meine Augenlider fühlten sich unglaunlich schwer an und wären meine Arme nicht hinter der Stuhllehne zusammengebunden und meine Knöchel an den Stuhlbeinen festgezogen gewesen, wäre es mir mit Sicherheit schwergefallen, mich auf dem Stuhl zu halten.

Doch als ich Sherlock so lachen sah, erreichte etwas Klarheit meinen Kopf und es gelang mir, diesen etwas anzuheben, sodass ich auf Sherlock hinunterblicken konnte und dessen zerzauste Locken wahrnahm. Das ist ungewohnt. Normalerweise ist er derjenige, der auf mich hinabblicken kann.

"Ich... krieg das...", erklang dann die wohlklingende Stimme meines Freundes etwas verzweifelt, als er sich auf einem Knie kniend nach vorne beugte und anscheinend versuchte, den Knoten an meinen Beinen zu lösen, den Hamilton dort mit altem Band zusammengezogen hatte, dass eigentlich dafür benutzt wurde, die Strohballen zusammenzuhalten.
"Sherlock, es ist doch alles okay.", murmelte ich immer noch etwas benebelt, ohne richtig wahrzunehmen, was passierte.

Doch der Detektiv schüttelte nur resigniert den Kopf, ein leises Schnauben ausstoßend. Erst jetzt bemerkte ich, wie schnell Sherlocks Atem ging und wie schweißnass seine helle Stirn glänzte. "Ich kriege es nicht auf. Es geht einfach - nicht - auf -", stieß er mit zitternder Stimme hervor, immer wieder an der Schnur um meinen Beinen ziehend.
Was ist nur los mit ihm ?

"Sherlock ?", fragte ich alarmiert nach, erneut angestrengt den Kopf hebend, um ihn anzusehen. Doch sein Blick war nur auf die Fesseln konzentriert, die er zu lösen versuchte. "Sherlock ! Sieh mich an.", brachte ich mit fester Stimme hervor, dieses Mal mit Nachdruck, sodass er seine Hände resigniert fallen ließ und zu mir nach oben sah.
Die in diesem Moment grau erscheinenden, sonst so stechenden Augen meines Mitbewohners waren glasig und weit aufgerissen, seine sonst so ruhigen Hände zitterten stetig.

Es war schwer nachzuvollziehen, weshalb er so aufgeregt schien, Hamilton war gefasst, Lestrade hatte ihn vor einigen Minuten bereits aus der Scheune geführt, ihn stützend, aufgrund seiner Verletzung.
"Ich kriege sie nicht auf, John, ich -", stieß der Dunkelhaarige kopfschüttelnd hervor, immer noch auf dem Boden kniend, als er den Blick wieder abwandte.
"Shh. Sherlock. Beruhige dich.", begann ich, wollte die Hand nach ihm ausstrecken, wurde jedoch von dem Band um meine Handgelenke zurückgehalten, weshalb ich einfach fortfuhr :" Sieh mich an. Sherlock. Alles wird gut, okay ?"

Doch er schüttelte nur zitternd den Kopf. Noch nie hatte ich meinen Freund so aufgelöst gesehen, dabei kannten wir uns nun schon eine ganze Weile und hatten unzählige nervenaufreibende Fälle miteinander gelöst. "Sie... Sie ist tot, John.", murmelte er dann, stand plötzlich auf und drehte sich von mir weg, die großen Hände in seinen dunklen, verschwitzten Haaren vergraben.
Vera. Vera ist tot.
Angespannt atmete ich aus. Ich hatte es mir bereits gedacht, es aber nicht wahrhaben wollen. Sie war also wirklich tot.
Aber Sherlock kannte sie doch gar nicht wirklich... Warum geht ihm ihr Tod so nahe ?

"John. Ich -", begann Sherlock erneut, brach dann jedoch wieder ab, als er sich zu mir umwandte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht zeugte von so viel Sorge, Schmerz aber irgendwie auch Erleichterung, dass ich maßlos überfordert war, daraus Schlüsse zu ziehen.
"Nein, Sherlock. Beruhige dich. Es ist okay.", sprach ich beruhigend auf ihn ein, einen liebevollen Ausdruck auf dem Gesicht.
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte es gewirkt, als würde das aufgeregte sturmgrau von Sherlocks Augen im ruhigen tiefblau meiner eigenen ertrinken.
Komm schon, Sherlock. Es ist okay. Alles ist okay.

Dann schloss der großgewachsene Detektiv seine Augen, atmete tief ein und als er wieder ausatmete, kam er erneut auf mich zu, trat dieses Mal hinter mich und machte sich mit kalten Händen daran, den Knoten an meinen Handgelenken zu lösen. Augenblicklich zuckte ein Lächeln um meine Mundwinkel in den leeren Raum hinein und aus der Ferne waren in diesem Moment Sirenen zu vernehmen, von einem Krankenwagen und der Polizei.
Sherlocks Finger waren klamm, dennoch spürte ich, dass er aufgehört hatte, zu zittern.
Wenige Sekunden später fiel das erste Band auf den Boden und sobald meine Hände frei waren, zog ich sie nach vorne und rieb mir die wunden Handgelenke.

"Danke.", murmelte ich, genau in dem Moment, in dem das selbe Wort aus Sherlocks Lippen entwich.
"Wofür ?", fragte ich etwas verwirrt nach, während sich mein Freund erneut an die Fesseln an meinen Knöcheln machte und sie dieses Mal ohne große Probleme öffnen konnte.
Doch Sherlock antwortete nicht mehr, auch nicht, als ich endlich mein Gleichgewicht wieder fand und es schaffte, aufzustehen.
Er steht so nah vor mir.

Ebenfalls stumm ließ ich meinen sorgenvollen Blick über meinen Mitbewohner wandern, über seine nun staubige Hose, das weiße, nach oben gekrempelte Hemd und seinen schmalen Oberkörper, der sich deutlich darunter abzeichnete. Sherlocks Schultern hingen hinunter, seine Lippen waren leicht geöffnet und die wirren Locken waren so zerzaust, dass sie in alle Richtungen abstanden.
Doch das, was ich am stärksten wahrnahm, war der Ausdruck auf seinem blassen Gesicht.
"Sherlock...", murmelte ich vorsichtig, mein Herz schlug dabei so laut in meiner Brust, dass ich Angst hatte, mein Gegenüber könnte es hören.
Nur wenige Zentimeter trennten uns voneinander, doch mein Mitbewohner sah mich nicht an, blickte nur stumm über meine Schulter hinweg.

Irgendwo in meinem Hinterkopf flüsterte eine kleinlaute Stimme, dass es unangebracht war, so kurz nach der Nachricht von Veras Tod nur daran denken zu können, wie nahe Sherlock Holmes vor mir stand und wie deutlich sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob, doch ich nahm sie kaum war. Zu sehr war ich darauf fokussiert, zu atmen, einfach immer weiter zu atmen.

"John.", antwortete Sherlock dann nur nach einem Moment der Stille, der wie eine Ewigkeit schien und wandte den Blick endlich wieder zu mir, sah mir ohne jede Scheu so direkt in die Augen, dass die goldenen Sprenkel in seiner Iris unweigerlich auf das tiefblaue Meer meiner eigenen trafen, es aufwühlten, unruhige Wellen hervorriefen und zusammen zu einem Sturm wurden, dessen Bedeutung mir erst klar wurde, als ich Sherlocks, nun erstaunlicherweise wieder warme, Hand an meiner Wange spürte, von wo aus seine Finger vorsichtig an meinen Hinterkopf wanderten und dabei durch meine kurzen Haare strichen.

It is what it is - JohnlockWhere stories live. Discover now