Ablenkung

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Sherlock PoV

Nachdem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, trat ich auf die Straße hinaus und schlug den Kragen meines Mantels nach oben, ehe ich die Hände wieder in meinen Manteltaschen versenkte. Es war recht frisch, wie es Mitte November zu erwarten war, dennoch blieb ich einen Moment stehen und ließ meinen Blick über die vorbeifahrenden Autos schweifen, deren grelle Lichter von dem tiefhängenden Nebel verschluckt wurden.

Natürlich hatte ich den Fall schon lange gelöst. Es war tatsächlich ein Virus im Blut gewesen, der gentechnisch so verändert war, dass er sich quasi undercover im Körper einnisten kann. John wusste wahrscheinlich auch, dass ich nicht deshalb zu UBahn musste.

Müssen war womöglich auch zu viel gesagt, ich wollte einfach. Auch wenn ich den letzten Fall gerade erst abgeschlossen hatte, fieberte ich bereits auf einen neuen hin. Ein Fall würde mich weiterhin ablenken, meine Gedanken in eine andere Richtung lenken, mich fordern. Ein Mord wäre schön.
Am besten ein Doppelmord, je mehr Leichen, desto besser !

Schnellen Schrittes ging ich also die Straßen entlang, den Kopf leicht gesenkt, um nervenaufreibenden Passanten zu entgehen, die immer so säuselnd grüßten und sich dann über das Wetter unterhalten wollten. Man könnte es als Scheißwetter bezeichnen, der Himmel war grau, Dunkelheit schien sich langsam über die Straßen zu senken und gerade startete ein nerviger Nieselregen damit, mir die dunklen Locken ins Gesicht zu kleben, doch was machte mir das schon aus.

Während ich lief, wollte mir Johns Gesichtsausdruck einfach nicht aus dem Kopf gehen. Warum war er vorhin so wütend gewesen ? Es ist doch niemand mehr gestorben. Ich habe den Fall gelöst, so wie immer. Von wegen, es standen Menschenleben auf dem Spiel.

Verbissen erreichte ich den Eingang zur UBahn-Station, eilte die Treppen hinunter und schlüpfte zwischen den sich gerade schließenden Türen der Bahn hindurch, die am nächsten war, und griff Innen nach einer Deckenstange, um mich festzuhalten. Sherlock Holmes setzte sich nicht wie ein gewöhnlicher Mensch auf die abgeranzten Sitze, da kamen einem die langweiligen Durchschnittsbürger Londons viel zu nahe.

Es war die gelbe Linie, das hatte ich aus dem Augenwinkel direkt gesehen, sie würde mich also zumindest bis Hammersmith bringen und dann wieder zurückfahren. Ohne weiter darüber nachzudenken, beobachte ich die alte Dame, die sich auf den Weg zur Tür machte, offensichtlich, um an der nächsten Station auszusteigen.

Ihre Schuhe waren wohl man knallrot gewesen, mittlerweile jedoch eher abgenutzt, der Faltenanzahl im Leder nach zu urteilen mindestens zwei Jahre alt. Der Hosenbund zwei mal umgeschlagen, Hose unbeabsichtigt eine Nummer zu groß, erkennbar am fest zugezogenen Gürtel, wahrscheinlich hatte sie diese online bestellt und nicht zurückgesendet. Trotz der Kälte trug sie nur einen Strickpullover, an den Fingerkuppen hatte sich leichte Hornhaut gebildet, sie strickte also selbst.
Gerade, als sich die Türen der Bahn an der nächsten Haltestelle zischend öffneten und die alte Dame die Bahn verließ, begann die Langeweile, mich zu überkommen. Menschen konnten ja so trist und einfältig sein !

Die nächsten drei Stunden, 21 Minuten und 45 Sekunden verbrachte ich damit, Menschen in der UBahn zu deduzieren, von denen einer langweiliger gewesen war, als der nächste.

Was ein erbärmlicher Zeitvertreib...

Bis ich wieder ausstieg, direkt in der Bakerstreet. Ich hatte es lange ausghalten, ungewöhnlich lange, länger, als in meinen schlimmsten Albträumen.

Du willst nur John aus dem Weg gehen, weil du weißt, dass er recht hat.

Mit einem Kopfschütteln verwarf ich den Gedanken. Nein. Als ich die Treppenstufen zur Straße nach oben lief bemerkte ich, dass der Nieselregen wieder aufgehört hatte, doch die Luft war jetzt klamm und es war dunkel geworden, wahrscheinlich bereits zwischen 23 und 24 Uhr. Vor der schwarzen Haustür der 221b Bakerstreet blieb ich auf der anderen Straßenseite stehen und hob den Blick zum Fenster unseres Wohnzimmers, um zu sehen, ob John noch wach war. Doch das Licht war gelöscht, das Fenster geschlossen, es sah ganz danach aus, als sei John schlafen gegangen.

Ein kleiner Stich der Enttäuschung drohte, sich in meiner Brust auszubreiten, doch mit einem entschlossenen Schritt auf die Haustür zu, drängte ich diesen zurück. Ich hatte ihm ja gesagt, er solle nicht warten. Warum also sollte er das dann tun ?

"Sherlock, da sind sie ja endlich !", rief Mrs Hudson plötzlich, als sie genau in dem Moment die Tür öffnete, als ich nach dem Knauf greifen wollte. "John war ganz außer sich vor Sorge, wo steckten sie bloß ? Sie können nicht immer einfach verschwinden, Sherlock, sie - ", redete sie flehend auf mich ein, doch diesen Abend war ich nicht in der Stimmung, mir ihr Gejammer weiterhin anzuhören und schob mich schnell an ihr vorbei, um die 17 Treppenstufen ins Wohnzimmer hinaufzugehen.

Bevor die Haushälterin folgen konnte, schloss ich die Tür hinter meinem Rücken, blieb einen Moment dort stehen, um zu lauschen. Nichts. Sie kannte mich lange genug, wahrscheinlich hatte sie es aufgegeben. Dann drehte ich mich um, nahm meinen Mantel und den Schal ab und wollte in die Küche gehen, als ich bemerkte, dass ich nicht alleine war.

Ich hatte Recht gehabt, John war tatsächlich schlafen gegangen. Wohl aber nicht mit Absicht, denn so, wie er auf seinem Sessel schlief, schien das alles andere als bequem zu sein. Johns Mund stand leicht offen, er atmete Nachts immer etwas schwerer, doch in dieser verdrehten Position sah er ungewöhnlich friedlich aus. Der Arzt trug noch immer seine Tageskleidung, auf dem Boden vor ihm stand eine fast ausgetrunkene Tasse Tee. Melisse, seine Lieblingssorte.

In diesem Moment, in dem ich John so ruhig schlafen sah, vergaß ich, wie aufgebracht er vorhin gewesen war und beobachtete ihn kurz. Dann nahm ich die Decke von meinem eigenen Sessel, schlug sie auf und legte sie vorsichtig über John.

Er hat also doch auf dich gewartet, Sherlock. Er ist nur dabei eingeschlafen.

Dann setzte ich mich ihm gegenüber in meinen eigenen Sessel, stützte die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und beobachtete meinen besten Freund beim Schlafen.

It is what it is - JohnlockWhere stories live. Discover now