Queensway

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John PoV

Ich hörte Sherlock selten seufzen, doch so, wie er jetzt gerade aus dem Fenster sah, schien es fast so, als sei ein Ausdruck der Verzweiflung über seine markanten Gesichtszüge gehuscht. Doch der Ausdruck war so schnell wieder verschwunden, dass ich mich getäuscht haben musste. Der Consulting Detective war noch nie verzweifelt gewesen. Schon gar nicht in einem Restaurant.

Während er so nachdenklich aus dem Fenster sah, die Hände um die dampfende Teetasse gelegt, schien meine Realität in weite Ferne zu rücken. Ich bekam quasi gar nicht mit, dass mein Teller plötzlich leer war, bis ein quietschendes Geräusch ertönte, als ich mit der Gabel versuchte, Luft auf meinem Teller zusammenzurollen. Sofort schreckte auch Sherlock hoch, der ungewöhnlich abwesend gewirkt hatte, doch da der Detektiv mit den wirren Locken für mich meistens unergründlich wirkte, versuchte ich erst gar nicht, mir Gedanken darüber zu machen.

Entschuldigend legte ich mein Besteck beiseite und tupfte mir mit der Serviertte den Mund ab. "Ich gehe nach Queensway und finde heraus, was Mr. Hamilton dort so wollte.", verkündete Sherlock währendessen, trank seinen Tee leer und begann bereits, sich seinen Schal umzubinden. "Sie gehen nach Queensway ? Soll ich sie begleiten ?", fragte ich daraufhin mit leicht schräg gelegtem Kopf.  Was war denn jetzt wieder los ? Wie aus dem Nichts entscheidet er sich immer wieder für unbegründete Alleingänge, wie diesen...

"Sie gehen zurück in die Bakerstreet. Falls er wieder auftaucht, wird Emily sich bei ihnen melden.", sprach Sherlock schon im Aufstehen weiter, während er nach seinem Mantel griff. Das alles ging so schnell, dass ich nicht Mal wirklich Zeit hatte, nach meiner eigenen Jacke zu greifen und als ich zahlen wollte, war Sherlock ohne ein weiteres Wort aus dem Lokal verschwunden.

Perplex starrte ich aus der Scheibe auf das rege Treiben der Straßen, Atemwolken wurden von den vorbeieilenden Passanten ausgestoßen.

Zuhause bleiben, falls Mr. Hamilton auftaucht ? Warum sollte er das tun ?

Aus irgendeinem Grund wurde ich das Gefühl nicht los, dass Sherlock lediglich versucht hatte, mich loszuwerden. Warum er das jedoch tun sollte, wurde mir auch nicht schlüssig.
Wenig später trat ich selbst auf die Straße, meine Jacke bis zum Anschluss geschlossen, um die Kälte von meinem Hals fernzuhalten und sah mich etwas planlos um, während ich die Hände in die Hosentaschen steckte, um sie zu wärmen.

Dabei spürte ich ein festes Stück Papier unter meiner linken Handfläche und zog dieses heraus. 'Chelsea Library - Ms. Vera Reynolds' war darauf in goldenen Buchstaben zu lesen, darunter stand kursiv gedruckt eine Handynummer. Kurz drehte ich die Karte nachdenklich zwischen meinen Fingern, dann steckte ich sie wieder weg.
Das nächste vorbeifahrende Taxi hielt ich an und fuhr zurück in die Bakerstreet.

Dort angekommen dankte ich dem Fahrer, stieg aus und öffnete die schwarze Haustür, die mir mittlerweile so vertraut war, wie meine Jackentasche. Langsam ging ich die Stufen zu unserer gemeinsamen Wohnung nach oben und drückte auch dort die Tür auf. Im Türrahmen blieb ich ein paar Augenblicke stehen und nahm die Umgebung in mich auf.

Die Unordnung, in der Sherlock seine ganz persönliche Ordnung sieht... der knallgelbe Smiley an der Wand, dessen Augen nur noch schwarze Kugellöcher waren, die leere Tasse Tee auf dem Tisch in der Mitte des Raumes.

All das war mir so bekannt, so vertraut und es fühlte sich alles so richtig an. Wie ein richtiges Zuhause. Ein Zuhause, dass Sherlock Holmes mir geboten hatte, als ich es mehr brauchte, als alles andere auf dieser Welt. Seufzend riss ich meinen Blick von Sherlocks Sessel los, hängte meine Jacke an den Haken neben der Tür und rieb meine Hände, um sie zu wärmen.

Da ich mein Glas nicht mehr auf dem Tisch erblickte, lief ich in die Küche, um mir ein neues zu holen, wahrscheinlich hatte Mrs. Hudson es weggeräumt. Manchmal tat sie das,  versuchte ernsthaft, Sherlock hinterherzuräumen, obwohl er es hasste und dabei kam eben alles weg, was wegkommen konnte. Doch in der Küche traf mich fast der nächste Schlag, denn die Spuren von Sherlocks Experiment waren immer noch überall verteilt, Messbecher, Pipetten und Seziermesser lagen wahllos auf Anrichte und Küchentisch herum, einfach zu Haufen und Stapeln zusammengeschoben, um etwas Platz frei zu machen.

Dadurch vergaß ich mein Glas vorerst, gerade hatte ich ja eh nichts besseres zu tun, da konnte man ja auch mal etwas aufräumen.

Mal, John. Witzig. Als ob Sherlock jemals irgendetwas aufgeräumt hätte. Du bist immer der, der aufräumt.

Kopfschüttelnd machte ich mich daran, die durcheinandergeworfenen Utensilien zu sortieren, Messer zu Messern, Kolben auf Kolben. Teilweise hatte ich zwar keine Ahnung, in was genau meine Finger landeten, wenn ich mal einen Moment nicht aufpasste, doch nach einiger Zeit hatte ich ordentliche Stapel gebildet und damit begonnen, diese abzuwaschen. Vielleicht sollten wir uns wirklich mal eine Spülmaschine zulegen, aber die Dinger waren teurer, als man denken würde. Wofür hatte man schon Hände ?

Acht Erlenmeyerkolben später war dieser Stapel komplett gesäubert und ich sah mich etwas ratlos um.
Wo genau verstaut Sherlock seine Kolben ? Wenn ich sie an die falsche Stelle räume, wird er sich wieder aufregen, obwohl ich sie für ihn gespült habe...

Auf gut Glück öffnete ich daraufhin eine Schranktür nach der anderen, ließ meinen Blick über Teller, Tassen und Frühstücksbrettchen wandern. Gerade wollte ich den Schrank mit den Weingläsern wieder schließen, da blitzte etwas dunkelgrünes hinter ein paar Gläsern auf. Interessiert öffnete ich die Tür wieder, bevor sie gänzlich zufallen konnte und holte die vordersten drei Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf der Anrichte ab.

Verwirrt sah ich auf eine dunkelgrüne, quadratische Blechdose, unter deren Deckel ein roter Servierttenzipfel hervorlugte.
Hat Mrs. Hudson etwa eine ihrer Dosen hier oben vergessen ? Normalerweise ist sie nicht so vergesslich...

Interessiert streckte ich mich, um mit beiden Händen nach der Dose greifen zu können, welche einen undefinierbaren Geruch verströmte. Leicht die Nase rümpfend stellte ich sie ebenfalls auf der Anrichte ab und hob vorsichtig den blechernen Deckel an, der gar nicht so einfach zu öffnen war.

Moment. Was ? Sind das etwa ?

"Weihnachtskekse ?", überlegte ich laut, perplex auf den Inhalt der Dose sehend. Dunkelbraune bis schwarze Kreise, Vierecke und Dreiecke sahen mir entgegen, die hastig in die Dose geworfen schienen, einige waren dabei wohl zerbrochen. Vorsichtig senkte ich den Kopf, um genauer an den verbrannten Teilchen riechen zu können, doch neben diesem stechenden Geruch war nicht mehr viel wahrzunehmen.

War das etwa... Zimt ? Was soll das denn sein ? Mrs. Hudson kann doch ausgezeichnet backen... Sie können nicht von ihr sein. Aber... das sind unweigerlich, es müssen... Es müssen Weihnachtskekse sein...

Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, womit ich es zu tun hatte, hörte ich, wie die Haustür laut ins Schloss fiel und sah erschrocken auf.

It is what it is - JohnlockWhere stories live. Discover now