Kapitel 37

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Lengwede, Sommer 2016

Stumm saß Marius auf der Bank vor der kleinen Leichenhalle des Friedhofs und beobachtete das Spiel der untergehenden Sonne, die durch das Blattwerk der Bäume immer neue Muster auf den Kiesweg malte.

Das kleine Häuschen war abgeschlossen, damit niemand an den darin aufgebahrten Sarg gehen konnte oder die Kälte hinausließ, die bei der sommerlichen Wärme zwingend erforderlich war. Die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens hatten bereits alles vorbereitet für den morgigen Tag.

Mit schwerem Herzen blickte der junge Mann auf das frisch ausgehobene Grab an einer hübschen Stelle unter einem uralten Baum. Nur einen Meter von der Grube entfernt stand der Grabstein von seinem Großvater Erich. Das ließ Marius lächeln. Am Ende würden seine Oma und sein Opa wieder zusammen sein, so wie sie sich das immer gewünscht hatten.

Das spendete ihm Trost, auch wenn es den Schmerz des Verlusts nicht auslöschen konnte.

»Ich wusste ja, dass der Tag kommen würde«, murmelte er leise in Richtung der Hallentür, hinter der seine Großmutter in einem hübschen Eichensarg lag, »aber das ist zu früh, Oma. Viel zu früh. Ich bin noch lange nicht so weit, ganz ohne dich weiterzumachen ...« Marius zog die Nase hoch und setzte die Brille ab, die er normalerweise während der Arbeit und zum Autofahren trug und die gerade abends, wenn der Tag lang gewesen war, inzwischen fast unverzichtbar geworden war.

Mit den Fingerspitzen rieb er sich die Augen und stand auf. Wenn er hier sitzen blieb, würde er zu heulen anfangen und das würde ihm nicht helfen. Stattdessen griff er sich einen Rechen von einem der anderen Gräber und entfernte die Blätter von der Ruhestätte seines Großvaters. Marius seufzte leise. Das Grab sah vernachlässigt aus und das erfüllte den jungen Mann mit Ärger über seine Eltern. Solange seine Oma es konnte, hatte sie diesen Ort gehegt und gepflegt und kaum war sie nicht mehr da, kümmerte sich niemand mehr.

Er sah bereits jetzt eine düstere und trostlose Zukunft für die Gräber seiner Großeltern, denn Heinrich fehlte für solche Dinge jedes Gefühl und seine Mutter wagte sich kaum einmal vom Hof. Sie war schon damals scheu gewesen und Marius konnte sich kaum vorstellen, dass es heute anders war. Die Försters wirkten wie Einsiedler, mehr als jemals zuvor.

In Gedanken versunken kehrte der junge Mann das alte Laub zusammen, entfernte die vertrockneten Blumen und harkte den Weg rund um seines Opas Grab. Die zwei alten Damen, die ebenfalls auf dem Friedhof waren, nahmen kaum Notiz von ihm. Marius wusste, wer die beiden waren, denn sie waren schon alt gewesen, als er noch ein Kind war. Und obwohl er nur am Rande bemerkte, dass sie sich leise unterhielten, glaubte er nicht, dass sie ihn erkannten. Wenn, dann zeigten sie es nicht, denn Marius war in Lengwede ein als Triebtäter gebrandmarkter Ausgestoßener.

Es mochten zwölf Jahre vergangen sein, doch solche Dinge vergaßen kleine Gemeinden niemals.

Zufrieden mit seinem Werk betrachtete Marius das ordentliche Grab und putzte sich die Hände an der Jeans ab. Er würde morgen auch ein paar Blumen für seinen Opa mitbringen, das war er ihm schuldig, so lange, wie er ihn schon nicht mehr besucht hatte.

Marius zuckte zusammen, als in seiner Hosentasche das Handy zu klingeln begann und die Blicke der beiden alten Frauen missbilligend zu ihm herum schwenkten. Telefonieren auf Friedhöfen war für viele ein Sakrileg.

Leise fluchend fischte er das Gerät aus der Tasche und eilte mit schnellen Schritten auf die Straße. Es war ohnehin Zeit, langsam in die Pension zurückzukehren.

»Hallo, Förster?«, nahm er das Gespräch an. Ralf war dran.

»Hey du. Bist du schon in Lengwede angekommen oder noch unterwegs?«

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