Kapitel 20 - Gefangen

37 6 1
                                    


AN: Achtung: Dieses Kapitel enthält explizite grafische Darstellungen zum Thema Sterben (und Suizid). Wer empfindlich auf solche Themen reagiert, sollte dieses Kapitel womöglich überspringen.

~~~


Bin ich tot? Anders kann ich mir nicht erklären, was ich fühle. Ich kann nichts sehen, nichts hören, nichts riechen – aber mein Körper fühlt sich an, als würde er auf einer Wolke dahintreiben. Auch wenn ich nicht sagen kann, wo oben oder unten ist, oder wie schnell ich mich bewege, spüre ich die Bewegung, wie einen leichten Windhauch, und es ist fast schon angenehm. Eingepackt in Watte, abgeschottet von allem, was mir Sorgen bereitet hat. Weder Kälte noch Hitze dringen durch meine Haut, als hätte der Wind, der mich voran treibt, genau die gleiche Temperatur wie ich selbst.

Mehrmals versuche ich, die Augen zu öffnen, und ich kann spüren, wie sich meine Lider heben und senken, doch meine Sicht bleibt dunkel. Kein Licht und keine Schatten dringen zu mir durch, und ich fühle Frieden.

So kann es bleiben. Wenn ich schon sterben musste, dann werde ich wenigstens an diesem Ort bleiben können, ohne jemals wieder Leid zu erfahren.

Ich versuche, meine Hände zu bewegen, und es geling mir nur sehr schwerfällig. Es ist nicht so, dass die Bewegung schmerzt oder mich anstrengt, nein – meine Glieder scheinen einfach nicht in der Lage, sich schneller zu bewegen. Doch das stört mich nicht, denn ich habe jetzt eine ganze Ewigkeit Zeit, oder etwa nicht?

Nach etwas, das eine Stunde oder auch ein Jahr hätte sein können, sind meine Hände in der Nähe meines Gesichts angelangt. Fünf lange, elegante Finger streifen über ein sehr menschliches Gesicht, mit kleinen, zierlichen Ohren zu beiden Seiten und langen, glatten Haaren, die im sanften Wind treiben. Ich bin wieder Ich, und der Gedanke macht mich leicht wie eine Feder. Wann immer meine Finger meine Haut berühren, ist es, als würde Watte darüber streichen. Es kitzelt beinahe ein wenig.

Eine Weile lasse ich mich einfach nur treiben. Fühle meinen Körper, meinen menschlichen Körper, und bin froh, zumindest im Tod zu mir zurückgefunden zu haben. Auch wenn ich mir ein Leben nach dem Tod anders vorgestellt hatte, so weiß ich doch, dass es mir an diesem Ort an nichts fehlen wird.

Hunger, Schmerz, all solche Dinge, die ich nicht spüren werde. Mir bleibt mehr als genug Zeit, über all das nachzudenken, was mir im Leben entgangen ist, und sollte mir das einmal zu viel werden, lasse ich mich einfach weiter auf meiner Wolke treiben.

Immer wieder erfühle ich mein Gesicht, meine Ohren, die für mich das beste Indiz meines Mensch-Seins zu sein scheinen, als könnte ich nicht glauben, wirklich wieder ein Mensch zu sein. Es fühlt sich an, als würde jede einzelne Bewegung ganze Jahrzehnte in Anspruch nehmen, aber selbst ein Jahrtausend ist nichts in Anbetracht der Ewigkeit.

Auch so etwas wie Langeweile scheint es in meinem Jenseits nicht zu geben. Wann immer mein Kopf zu schwer ist mit Gedanken, die sich nicht recht zu Ende denken lassen wollen, schalte ich ab und treibe dahin, falle in einen Dämmerzustand, den ich ewig andauern lassen kann, wenn ich das möchte.

Schließlich passiert etwas. Ganz sachte, Nuance für Nuance, hellt sich das Schwarz vor meinen Augen auf. Es passiert so langsam, dass ich mir der Veränderungen anfangs gar nicht erst bewusst werde, doch schließlich hat sich die Sicht bald auf ein schimmerndes Grau aufgehellt, und hier und da kann ich bereits leichte Farbtupfen erkennen. Es sind Farben, die ich noch nie zuvor gesehen habe und für die ich keine Namen kenne, aber sie anzusehen gibt mir eine innere Wärme.

Anfangs sind es nur verschwommene Flecken, doch je heller die Umgebung wird, desto klarer und prächtiger werden die Tupfen. Wie weitere kleine Wolken, die langsam um mich herum Nichts treiben, schweben sie in diesem Raum aus Nichts, in dem auch ich mich befinde.

In einem Augenblick - Guild Wars 2 FanfictionWhere stories live. Discover now