18. Kapitel: Versprechen

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Ich sitze einfach da, starre auf die Tür. Irgendwie kann ich es doch nicht fassen, dass er weg ist. Ich dachte, er wollte kämpfen. Ich dachte, er würde kämpfen. Und irgendwo wollte ich, dass er kämpft. Ich wollte es. Wollte wissen, wie weit er gehen würde, wie viel Kraft er aufbringen würde. Ich wollte wissen, ob er es schaffen würde, aber die Chance habe ich mir verspielt. Indem ich ihm nicht die Chance gegeben habe. Ich verstehe mich selbst nicht. Ich verstehe nicht, warum ich ihn abweise und dann doch wieder mit dem Gedanken spiele, ihm diese Chance zu geben.

Mein Handy vibriert und ich sehe seinen Namen aufleuchten.

Pass auf dich auf

Ein vorsichtiges Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich das lese. Und ich kann nicht verhindern, dass ich irgendwie ein schlechtes Gewissen bekomme. Er liebt mich wirklich.

Das werde ich.

Ich drücke auf senden, lege mein Telefon weg. Ja, ich werde auf mich aufpassen, und auf Maria. Aber auf mich besonders. Mein Blick wandert Richtung Decke, ich schweife ab. Versuche mich zu erinnern, aber es geht nicht. Es ist wie als würde ich vor einem schwarzen Fluss stehen, aber das andere Ufer nicht sehen. Und am anderen Ufer wären meine Erinnerungen. Ich müsste irgendwie eine Brücke bauen, irgendwie über den Fluss kommen. Und dann könnte ich mich erinnern. Aber wie baue ich diese Brücke? Wie schaffe ich es, dass sie hält, ohne dass ich in den schwarzen Fluss falle? Es geht nicht. Manchmal existiert eine kleine Brücke, wenn etwas zurückkommt, wie damals am Studio in London. Oder kleinere Sachen. Déjà-Vus. Wenn ich in der Küche etwas suche, oder einen Film schaue, Bilder ansehe. Wenn das Gefühl hochkommt, das schon einmal getan oder gesehen zu haben. Aber das tut es nur selten und ich kann dieses Gefühl nicht festhalten. Es ist wie wenn ein Windhauch ein Blatt über den Fluss trägt, das man kurz sieht, das aber sofort weiterfliegt und man es aus den Augen verliert. Ich werde vermutlich nie eine Brücke bauen können und meine Erinnerungen zurückholen können. Ich könnte mich natürlich einer Hypnose unterziehen um zu sehen, ob das funktioniert, aber ich glaube nicht an diesen Esoterikquatsch. Aber ein Besuch bei einem Psychologen wurde mir damals im Krankenhaus wärmstens ans Herz gelegt. Ich müsste auch irgendwo noch den Zettel mit der Überweisung haben. Aber ich will nicht. Was soll mir der helfen?! Kann er gar nicht. Er bringt meine Erinnerungen auch nicht zurück. Irgendwann wird meine Türe aufgerissen und jemand schluchzt auf. Maria. Sofort sitze ich aufrecht.

"Was ist los?", frage ich und meine kleine Schwester wirft sich in meine Arme.

"Wo.. Ich... Komm mit!" Sie nimmt meine Hand, achtet gar nicht darauf, dass ich nicht so schnell laufen kann und zieht mich in Gästezimmer, wo sie auf das verwaiste Bett zeigt. "Wo.ist.Niall?" In ihrer Stimme klingt Wut mit, Trauer. Und Angst. Oh Gott.

"Maria... Beruhige dich... Er ist heim gefahren... Wir... Also... Ich glaub, du bist ein bisschen zu jung um das zu verstehen." Ich merke sofort, dass ich etwas falsches gesagt habe.

"Nein!", schreit sie und wirft sich auf das Gästebett. Oh mann, Kleine.

"Okay, okay... Also... Niall und ich haben beschlossen, ohne einander auszukommen, okay? Wir sind nicht mehr zusammen. Aber vielleicht kommt er dich noch besuchen, hm?" Ich streiche ihr über die Locken, nehme sie in den Arm. Sie hängt so verdammt an ihm. So sehr. Ich hatte recht: Für sie war er mehr der große Bruder, den sie nie hatte, als der Freund ihrer Schwester. Er war fest in die Familie eingegliedert und ein simpler Moment hat gereicht um das zu zerstören. Weil ich nicht aufgepasst habe. Und wieder gebe ich mir die Schuld. Soll ich nicht, tu ich trotzdem. Und ich bin mir sicher, dass er mir auch irgendwo die Schuld gibt und mich verflucht, weil ich einen Moment unaufmerksam war. Gerade jetzt, wo es endgültig vorbei ist. Wenn ich nicht diesen einen Fehler gemacht hätte, wäre alles wie früher - wie auch immer früher war. Aber ich wäre mit ihm in London wir hätten vielleicht gerade erfahren, dass wir Eltern werden. Vielleicht wären wir essen gegangen, hätten es den anderen gesagt, hätten uns beglückwünschen lassen. Vielleicht wären wir das Kinderzimmer einrichten gegangen, hätten Tapete oder Farbe gekauft, ein Bett, Babyklamotten, vielleicht ein kleines Fußball-Trikot. Einen Schnuller und einen kleinen Fußball. Vielleicht hätten wir uns Namen überlegt, hätten blöde und furchtbare vorgeschlagen, wären ernst geblieben und hätten ernsthaft nachgedacht. Wir hätten unsere Eltern angerufen, vielleicht Ärger bekommen, weil wir viel zu jung wären. Oder Glückwünsche, zu Tränen gerührte Mütter. Niall hätte sich vielleicht noch stärker um mich gekümmert, darauf geachtet, dass ich nichts mache, was das Kind gefährden würde. Vielleicht wären wir in seinem Urlaub weg gefahren und hätten stolz meinem Bauch beim Wachsen zugesehen. Hätten erlebt, wie unser Kind das erste Mal tritt, wie es wächst.

Und doch... Alles zerstört durch einen winzigen Moment der Unaufmerksamkeit. Ich bin schuld. Es trifft mich wie ein Schlag auf die Brust. Ich bin schuld ich weiß es. Er weiß es. Ich spüre die Tränen lange bevor sie über meine Wangen laufen. Es macht mich fertig. Wir hatten bestimmt ein glückliches Leben, eine tolle Beziehung. Alle sagen sie, Niall wäre der perfekte Freund und ich habe es kaputt gemacht. Ich bin schuld. An allem. Warum habe ich ihn gehen lassen? Warum habe ich ihm keine Chance gegeben? Warum versteht er mich nicht? Warum bin ich nur so stur? Ich vergrabe mein Gesicht in den Kissen, die nach ihm riechen, nach seinem Parfum, versuche Erinnerungen hochzurufen, aber es funktioniert nicht. Stattdessen ist da nur Marias kleine Hand, die über meinen Rücken streicht und die leise Stimme meiner Schwester, die "Alles wird gut", flüstert, obwohl sie nicht mal weiß um was es geht. Sie passt auf mich auf, nicht ich auf mich. Ich setze mich auf, fahre mir über die Augen. Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Ich bin selbst schuld, ich hab die Chance vertan. Ich bin doof, wenn ich ihn weg schicke, aber hätte ich es nicht gemacht, hätte ich mir bestimmt auch Vorwürfe gemacht. Andere Vorwürfe, aber mit Sicherheit Vorwürfe.

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Wie versprochen das nächste Kapitel :)
Bis Donnerstag :) Voten und kommentieren ;)

Niamix xx

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