4. Kapitel: Familie

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Der nächste Tag beginnt eher plötzlich. Irgendjemand reißt die Tür zu meinem Zimmer auf und legt sich zu mir ins Bett. Ich drehe mich einfach weg. Ich hab schon wieder schlecht geschlafen, vermutlich weil momentan einfach zu viel auf mich einprasselt. Und wegen diesem Mann. Wenn er mein Freund ist, muss ich doch irgendwas fühlen. Oder? Wenigstens weiß ich durch ihn, dass ich jemanden hatte. Die Nachrichten auf meinem Handy hab ich mir nicht angesehen, das wäre mir zu viel geworden. Gestern. Nach dem Kuss, der irgendwie viel zu lange gedauert hat. Aber wenn es ihm geholfen hat. Ihm. Niall.

„Guten Morgen. Dein Frühstück“. Jetzt sehe ich doch auf. Eine Schwester kommt mit meinem Essen und stellt es auf das Kästchen. Und neben mir liegt das kleine Kind von letztens. 

„Josy“, grinst sie und drückt mir vorsichtig einen Kuss auf die Wange. In meinem Kopf suche ich nach ihrem Namen. 

„Maria, lass sie doch... Sie ist gerade erst aufgewacht“. Wieder die Frau von letztens.

„Hey Josy. Wie geht's dir?“, fragt sie mich und lächelt mich an.

„Den Umständen entsprechend“, murmele ich und nehme mir meine Brötchen. Darf man um diese Uhrzeit eigentlich schon Besucher empfangen? Ich seufze. Ist anscheinend doch später als ich gedacht hab. Naja egal.

„Weißt du, wer wir sind?“ Ich schüttele den Kopf, mustere die Kleine, die mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu mir hochstarrt. Süßes Kind. „Aber Niall hast du – wieder – kennengelernt?“. Ich nicke nur und lasse den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren. Ich kenne ihn nicht wirklich. Aber mich kenne ich genauso wenig. Ich weiß ja nicht mal, was meine Lieblingsfarbe war. „Und? Wie findest du ihn?“ Was wird das denn jetzt? Ich runzele die Stirn, setze mich gerade hin. Wie finde ich ihn..„Ich glaub nicht, dass ich das einschätzen kann... Nach einmal kennenlernen“, murmele ich, sehe kurz auf das Bild auf meinem Handy. Ich habe mehrere Bilder in meiner Galerie von ihm und mir. Oder nur von ihm. Auch ein paar von den Beiden hier. Sie nickt.

„Maria... Magst du Josy sagen, wer wir sind?“. Die Kleine sitzt sofort kerzengerade neben mir, grinst mich glücklich an und holt tief Luft.„Aaaalso... Ich bin Maria. Und das ist Mama und die heißt mit Vornamen Ines. Und du bist die Josy und du bist meine Schwester“, kichert sie und umarmt mich. Ich hebe kurz die Augenbrauen. Schwester. Mutter. „Und jetzt musst du dich wieder erinnern!“. Die Kleine zieht einen Schmollmund. Ich muss mich wieder erinnern. Wenn's denn so einfach wär. 

„Das... also das ist alles gerade nicht soo einfach, Kleine“, versuche ich ihr zu erklären. „Weißt du... Als ich aufgewacht bin, hab ich nicht mal meinen Namen gewusst und ich kann mich an nichts erinnern, was vorher war. Also bevor ich hier aufgewacht bin, das ist alles weg. Als hätte mir jemand einen Staubsauger ans Ohr gehalten und alles abgesaugt“. Sie kichert und zeigt mir den Vogel. Ich grinse leicht.

„Du bist verrückt“, stellt sie fest.„Aber die Mama sagt, das warst du schon immer“. Verrückt. Eine Eigenschaft. Nach und nach werde ich das Puzzle, aka mein Charakter zusammensetzen, meine Charakterzüge bemerken und sie mir erzählen lassen. Aber ich glaube nicht, dass ich genau die Person von vor dem Unfall sein werde. 

„Maria... Magst du mal kurz rausgehen?“, fragt meine... Mutter. Der Gedanke ist seltsam. Eine Mutter zu haben. Eine Schwester zu haben. Einen Freund zu haben. Das geht mir alles nicht in den Kopf, fühlt sich unwirklich an. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Irgendwie ist das ein komisches Gefühl. Von Null auf Hundert Leute zu haben, die einen in dein altes Leben zurück holen wollen. Die wollen, dass du dich erinnerst. Aber was, wenn ich das nie wieder tun kann? Wenn meine Erinnerungen weg bleiben? Für immer? Ich kann doch nicht einfach mein Leben so weiter führen, als wäre nichts gewesen ohne Erinnerungen. Ich habe wichtige, vielleicht für meinen Charakter prägende Ereignisse einfach vergessen. Ich kenne meine Familie nicht, ich kenne mich selbst nicht. Ich weiß nicht, wo ich aufgewachsen bin. Ob ich Sport gemacht habe. Wie meine Noten waren. Was für einen Abschluss ich habe. Wie lange ich mit Niall zusammen war. Wie alt meine Schwester ist, wie alt meine Mutter ist. Was mit meinem Vater ist. Wo meine Familie wohnt. Ich kann gar nicht mehr in mein altes Leben zurück, wenn meine Erinnerungen nicht zurückkommen. Ich müsste so vieles neu lernen und manche Sachen sind dann für immer verschwunden. Für immer verloren, ausgelöscht. Die Erinnerung an meinen ersten Kuss ist weg, an jede Stunde mit Niall. An jede Minute mit meiner Familie. Alles weg. Irgendwo in den Tiefen meines Gehirns vergraben, vielleicht für immer verschüttet. 

„Josy?“. Ich sehe auf, sehe die Frau an. 

„Tut mir Leid... Ich war in Gedanken“, murmele ich. In Gedanken an Erinnerungen, an die ich mich nicht erinnern kann. 

„Verständlich... Ist ein bisschen viel momentan, oder?“. Wenn du wüsstest. Ein schwaches Lächeln legt sich auf mein Gesicht. 

„Ich weiß nicht... Ich komm einfach mit dem Gedanken nicht klar, dass ihr mich alle wieder in mein altes Leben holen wollt. Aber wenn ich das nicht will? Wenn ich einfach neu anfangen will? Vielleicht ohne euch und Niall? Ich kenne euch eigentlich gar nicht und mich auch nicht und ihr alle kennt mich wie ich war, aber was wenn ich nie wieder so sein werde? Wenn ihr dann nicht mehr mit mir klar kommt, weil ich eine andere geworden bin? Ich... Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht mal, was ich will...“. Ich starre auf meine Hände, atme tief ein. Die verstehen mich doch eh alle nicht.

„Hey Große... Wir schaffen das. Wir alle. Du, Niall, Maria und ich. Wir bringen dich wieder auf die Beine und wenn du dich nicht erinnerst, dann helfen wir dir. Wir kennen dich alle und können dir jede Frage über dich beantworten. Wir sind für dich da, egal was ist, okay? Du kurierst dich jetzt aus und dann zeigen wir dir alles und dann wird das schon“. Sie lächelt mich an, fährt mir durch die Haare und drückt mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. „Niall wollte dich heute nochmal besuchen kommen... Aber ich kann ihm auch absagen, wenn du willst“. Ich nicke kurz. Ich will jetzt meine Ruhe. Ich muss jetzt nachdenken. Und dann kann ich den nächsten, der meine Gedanken durcheinander schmeißt, nicht brauchen. „Tschüss Große... Bis bald, okay? Und nicht den Kopf hängen lassen“. Wieder nicke ich nur. Nicht den Kopf hängen lassen. Einfach nicht nachdenken. Wenn's denn so einfach wär...

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