5. Kapitel: Erste Schritte

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Zwei Wochen später:

Heute werde ich entlassen. Letzter Tag im Krankenhaus. Wo ich jetzt hinwill, weiß ich nicht. Maria und meine Mutter – inzwischen hab ich mich mit dem Gedanken ein wenig angefreundet – sind wieder nach Hause, nach Brighton, gefahren. Und jetzt sitze ich mit meinen Krücken, dem Krankengymnastik-Rezept und meinem Handy hier in meinem Krankenzimmer, warte auf den Chefarzt. Zur letzten Visite. 

In den letzten zwei Wochen haben Niall und meine Mutter immer wieder versucht, meine Erinnerungen zurückzuholen. Fotos, Videos, Geschichten. Aber nichts davon kam mir irgendwie auch nur entfernt bekannt vor. Und schön langsam bin ich mir sicher, dass es das war mit meinem Gedächtnis. Dass nichts zurückkommt. Ich habe das Gefühl, die beiden leiden mehr darunter, besonders Niall. Er kam immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht und ging mit einer Miene wie drei Tage Regenwetter.

Immer und immer wieder hat er versucht, etwas aus mir herauszubringen. Hat mir Fragen über unsere Beziehung gestellt, aber mit jedem. „Ich weiß es nicht mehr“  wurde er niedergeschlagener und trauriger. Meine Mutter sagt, er liebt mich. Aufrichtig und bedingungslos. Ich weiß es nicht. Aber ich liebe ihn nicht. Ich fühle nichts für ihn. Natürlich ist da diese gewisse Freude, dass er immer gekommen ist und nicht aufgibt und kämpft – auch wenn es nichts bringt. Das war's aber auch. Und er gibt sich wirklich Mühe. Inzwischen weiß ich auch, dass er Sänger ist. Bei einer Boyband. Anscheinend bei der Boyband und das wir zusammen waren, bevor er berühmt wurde.  Genauer gesagt seit 2009. Fünf Jahre fast. Und mir fehlt jede Erinnerung an diese Zeit. Dieses Wissen scheint ihn richtig fertig zu machen. Immer wieder hat er Witze gemacht, Insider zwischen ihm und mir, aber ich konnte nicht drüber lachen. Und dann ist er immer erst kurz auf Abstand gegangen, hat sich ans Fenster gestellt, seinen Kopf dagegen gelehnt und geseufzt. Am Anfang kam er mir nicht so vor, als würde ihm das etwas ausmachen, dass ich nichts mehr weiß, aber je mehr Zeit er hier mit mir verbracht hat, desto trauriger wurde er. Er würde vermutlich alles aufgeben, nur damit ich mich wieder an jede unserer gemeinsamen Stunden erinnere. Bringt meine Gefühle, die ich für ihn hatte auch nicht zurück. Ich fühle nichts. Aber sagen kann ich es ihm auch nicht, er ist schon niedergeschlagen genug wegen mir.

Meine Mutter verkraftet es besser als er, zumindest äußerlich. Ich weiß nicht, wie es in ihr aussieht. Maria ist es egal, ob ich mich erinnere. Für sie bin ich einfach die große Schwester und punkt. Für sie zählt nur, dass ich lebe und da bin und mit ihr lachen kann, sie in den Arm nehmen oder ihr vorlesen kann. Die Kleine ist immer fröhlich und ungefähr das knuffigste Wesen auf dieser Welt. Und wenn ich mir in einem sicher bin, dann darin, dass ich auch vor meinem Unfall so gedacht habe. Der Zwerg hat einen unglaublichen Charme und man muss sie einfach lieb haben. Niall geht auf eine wunderbare Art und Weise mit ihr um, fast als wäre er ihr Bruder oder Vater. Sie sieht zu ihm auf. Und wenn ich meine Familie so beobachte – Niall, wie er Maria durch die Krankenhausgänge jagt, meine Mutter, wie sie das immer mit einem liebevollen Lächeln betrachtet – dann will ich einfach meine Erinnerungen zurück. Aber wenn ich dann wieder alleine in meinem Bett liege, kommen die Zweifel wieder hoch. Was, wenn ich niemals so werde, wie ich vorher war? Was, wenn ich nie wieder etwas für Niall fühle? Aber ich werde damit leben müssen und sie auch. Und meine Mutter hat mir versprochen, dass sie alle drei für mich da sind, egal was ist und mit mir passiert.

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„So Jocelyn. Letzter Tag“. Der Arzt reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke auf, grinse ihn an. 

„Ja... Sie werden mich vermissen, hm?“ spotte ich leicht. Auch eine Eigenschaft, die ich an mir erkannt habe. Ich bin frech und vorlaut. Und habe eine große Klappe. 

„Natürlich... So... Beschwerden hast du keine mehr, außer deinem Fuß und deinen verlorenen Erinnerungen. Hm... Du könntest vielleicht mal einen Psychologen aufsuchen, vielleicht auch einen Hypnose-Spezialisten“. Er zwinkert mir zu und schüttelt mir die Hand. Ich verdrehe die Augen. 

„Mal sehen... Wiedersehen, Herr Doktor“. Grinsend hüpfe ich aus dem Zimmer, Richtung Rezeption. Ich bin entlassen, darf 'heim'. Wo auch immer das ist. Und schon ist wieder dieses unsägliche Gefühl der Hilflosigkeit da. Wo soll ich hin? Ich kenne mich hier, in London nicht aus, ich habe keine Ahnung, ob mich jemand holt, wenn ja wer und wo er mich hinbringt. 

„Wiedersehen“, lächelt die Frau und ich nicke ihr zu, schleiche auf den Ausgang zu. Ja... Wohin? 

„Hey Kleines“. Ich fahre herum, taumele ein wenig. Niall steht da, lehnt völlig unbeteiligt fast, an der Wand, grinst mich an. 

„Hey Niall“, murmele ich. Er holt mich. Wer auch sonst? 

„Bereit für dein Zuhause? Eigentlich hättest du da schon seit vier Wochen wohnen müssen. Mit mir...“ Er quält sich ein Lächeln ab und schließt mich in seine Arme. Wenigstens küsst er mich nicht. Das hat er nur dieses eine Mal getan. Und ich bin froh drum. Irgendwie kann ich das nicht gebrauchen, diese Gefühlsduselei. Ich... Ich will mich erstmal wieder zurecht finden. Irgendwie. Zumindest wieder ins 'Reallife' finden, die Welt draußen kennenlernen, mein Leben auf die Reihe bringen. „Okay Kleines... Auf geht's“. Er lächelt, geht langsam neben mir her. Schließlich bin ich mit den Krücken nicht so schnell. „Also... daheim.. sollten wir vielleicht ein paar Sachen klären... Aber nur, wenn du willst. Vielleicht willst du dich einfach mal ausruhen und in einem bequemen Bett schlafen oder deine Sachen mal durchstöbern, ob du dich nicht doch an irgendwas erinnerst... Aso, ich mach dir da keinen Vorwurf, wenn du nicht reden willst. Du...“. Irgendwie ist das schon wahnsinnig süß, wie er da so überbesorgt neben mir her geht und sich um Kopf und Kragen redet. Ich grinse leicht. War er schon immer so? War er immer der besorgte Freund? Oder ist das nur, weil er mir mein Leben jetzt so einfach wie möglich machen will?„Niall... Ist okay, atme bitte einfach mal durch... Als allererstes hab ich Hunger“, murmele ich und bleibe kurz stehen. Mit diesen dummen Dingern zu gehen, ist verdammt anstrengend.„Okay... Okay, sorry. Ich mach mir bloß Sorgen um meine Freundin“, nuschelt er und wird leicht rot. Um seine Freundin. Bin ich das überhaupt noch? Für ihn schon. Aber für mich ist er nicht mein Freund. Bloß... Wenn ich es ihm sage, dann tue ich ihm weh. Und bis jetzt lässt's sich ganz gut leben, so wie es ist.

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„Willkommen daheim, Kleines“. Er stößt die Haustür eines kleinen Einfamilienhauses auf und ich blicke in einen geräumigen Eingangsbereich. „Brauchst du Hilfe?“. Ich schüttele den Kopf, humpele ins Haus. Es ist schön, modern eingerichtet. Und irgendwas sagt mir, dass Niall das alleine nicht so auf die Reihe gebracht hätte. „Also... Das ist alles dein Werk. Ich hab nur die Wände gestrichen“. Er lächelt verlegen, fährt sich mit der Hand durch die Haare. „Ehm... Also, du hast Hunger. Okay... Da entlang geht’s zur Küche“. Er hat eine Hand leicht auf meinen Rücken gelegt, dirigiert mich Richtung Küche. Vermute ich.

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„Okay... also die linke Tür ist unser Schlafzimmer“. Niall deutet auf die Tür links von mir. Er hat einen Arm um mich gelegt, zeigt mir gerade das Haus. Es ist ziemlich groß, dafür, dass hier nur wir zwei wohnen. Wohnen sollten. 

„Und das?“. Ich nicke zur rechten Tür, spüre, wie er sich verkrampft.„Also das... das sollte in absehbarer Zeit ein Kinderzimmer werden." Was?!

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Instagram: German_wingz

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