Das Kapitel mit dem kleinen Anzug

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Anastasia war die erste, die mit der Lateinklausur fertig wurde. Kein Wunder - den Stoff hatten sie auf ihrer alten Schule schon in der neunten Klasse eingeprügelt bekommen. Außerdem waren die Aufgabenstellungen hier so einfach, dass selbst ein Dreijähriger mit Hirnfehler sie lösen und verstehen konnte. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand konnte die eins schnell erreicht werden. Wovor Anastasia jedoch Angst hatte, war das Treffen, das Kai organisiert hatte. Oder sollte sie Date sagen? Nun ja, dass er reden wollte, konnte man ihm ja nicht übel nehmen, aber sie wünschte sich bloß, dass er niemals aufgetaucht wäre. Sie hatte Angst, sich womöglich wieder in ihn zu verlieben, obwohl das natürlich gegen ihre persönliche 'Goldene Regel' verstieß, die besagte, dass Kai ein Schwachkopf war. Leider hatte der Kerl aber ein Gespür für Mädchen und was ihnen gefiel. Wenn es einer schaffen konnte, dass sie ihn morgens hassen und abends lieben konnte, dann er. Anastasia schloss die Augen und atmete tief durch. Sie würde einfach hingehen, ihm den teuren Champagner um die Ohren hauen und wieder verduften. Sie würde ihn so richtig schön verletzen, so wie er sie damals verletzt hatte. Sie ließ den Blick durch den Raum gleiten, bis sie Tim entdeckte, der scheinbar hochkonzentriert von seinem Handy abspickte. Anastasia schüttelte grinsend den Kopf. Tim war ein Lustiger. Er wurde nie schnell wütend, war humorvoll, charmant und konnte gut küssen. Was er nicht konnte, war verführen. Und wild sein, gefährlich sein, wie Kai es war. Mit Tim war alles im grünen Bereich, er ging nie hohes Risiko rein - außer beim Spicken. Kai hingegen verursachte, dass die Alarmglocke leutete - und genau davon fühlte Anastasia sich unangenehmerweise hingezogen. Und das, obwohl er scheiße war. Und auch nur davon. Nicht von dem Menschen an sich. Seufzend schob sie ihre Klausur zum Tischrand und erhob sich, um den Raum zu verlassen. "Anastasia, die Pause beginnt erst in zehn Minuten", dröhnte die Aufsicht. Sie verdrehte die Augen und drehte sich um. "Keine Sorge, ich lauf nicht Amok", scherzte sie. Das Gesicht der Aufsicht blieb hart. "Bitte setz dich und warte bis zum Klingeln." "Nein", widersprach Anastasia. "Ich meine, könnten sie nicht vielleicht eine Ausnahme machen?" Sie setzte ihren Hundeblick ein. "Bitte." Die Aufsicht schien hin- u d her gerissen. "Normalerweise ist das ja nicht erlaubt, aber..." "Danke!", rief Ana und rauschte aus dem Raum. Natürlich konnte sie bis zur Pause warten, aber sie wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Immerhin musste sie in einer Dreiviertelstunde wieder im Erdkundekurs sitzen.

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"Schatz, ich muss arbeiten", seufzte Stephen in den Hörer. Vor ihm lag das unfertige Drehbuch des Schweighöferfilms, das am Ende des Tages dem Chef übergeben werden musste. Er hatte definitiv keine Zeit für die Probleme, die Susi hatte - "Wo sollen die schimmeligen Kartoffeln hin?", oder "Wir haben eine Spinne im Schlafzimmer." oder auch "Ich vermisse Moritz so sehr." Wegen solcher Dinge wurde er ständig auf der Arbeit unterbrochen. "Ich komme morgen gleich nach der Arbeit und dann holen wir Moritz ab", seufzte Stephen. "Darum geht es doch gar nicht", quengelte Susi an der anderen Leitung. "Du musst dir einen Anzug kaufen. Für das Abendessen mit meinen Eltern, am Mittwoch." Stephen schüttelte entnervt den Kopf. "Schatz, ich habe einen Anzug. Und zwar einen, der zweihundert Euro gekostet hat. Keine Sorge, deine Mutter wird kein Makel an ihm finden." Er ignorierte die neugierigen Blicke seiner Kollegen geflissentlich. In anderen Büros kam es vor, dass die Angestellten Freunde wurden. Hier jedoch könnte man die Hälfte einweisen lassen. Die andere Hälfte war neugieriger als jeder Reporter oder steckte in einer Midlife-Crisis, wesewegen sie sich lieber die Probleme anderer anhörten, anstatt sich mit ihren eigenen zu befassen. Im Grunde lief es auf dasselbe hinaus. "Du hattest  mal einen Anzug", druckste Susi. Stephen legte verwirrt den Kopf schief, was sie ja natürlich nicht sehen konnte. "Was soll das heißen?" Er spürte, wie sie mit den Worten jonglierte. "Das soll heißen", sagte sie schließlich, "dass du ihn mir nicht hättest anvertrauen dürfen. Schatz, das tut mir so leid!" Susi klang ganz weinerlich. "Was ist los?", fragte Stephen drängend. "Ich habe ihn zu heiß gewaschen", jammerte Susi zerknirscht. "Jetzt können wir ihn Moritz vermachen." Stephen krallte sich keuchend an die Tischkante. "Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!" "Hör ich mich so an als würde ich Witze machen?", entgegnete Susi. "Nein."   "Also. Du brauchst einen Neuen." "Verdammt, der schöne Anzug!", fluchte Stephen. Ein mitleidiges Raunen ging durch die Runde seiner Kollegen. "Ich kaufe den Anzug nur unter einer Bedingung", rief Stephen. "Und zwar, wenn ich  den Antrag machen darf!" Susi lachte ihn aus. "Schatz, so läuft das nicht. Ich werde diese Bedingung nicht erfüllen, also wirst du am Mittwoch Jeans tragen. Und dann darfst du gar nichts mehr machen." "Was meinst du damit?", wollte Stephen wissen. "Ich meine, dass meine Mutter dich hassen und mit ihrer Handtasche aus dem Haus prügeln wird, wenn du keinen Anzug trägst." Susi stieß hörbar die Luft aus. "Es ist mein Haus!", rief Stephen entrüstet. "Ach, das juckt meine Mutter doch nicht", kicherte Susi. Na wunderbar!

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Susi faltete den nun halb so großen Anzug ordentlich zusammen und legte ihn auf Stephen's Seite des Bettes. Vielleicht wusste er noch etwas damit anzufangen, ansonsten würde sie ihn wirklich gern Moritz vermachen... "Schau mal", sagte Mareike hinter ihr. "Was?", fragte Susi genervt. Schon den ganzen Tag hing ihre Cousine ihr an den Fersen und quasselte sie zu. Irgendwann würden ihre Ohren noch überlaufen. "Hab ich im Trockner gefunden." Mareike hielt einen kleinen Katalog hoch. "Was ist das?", wollte Susi wissen und kniff die Augen zusammen. Sie trug weder Brille noch Kontaktlinsen und konnte deshalb sehr schlecht sehen. "Ein Katalog für Trauringe. Verstehst du, wie ich meine, Darling? Hier kannst du den Ring für Stephen bestellen! Aber nimm bloß nicht denselben!" Mareike kicherte amüsiert. Von dem Streit von heute Morgen merkte man nichts mehr. "Zeig mal", sagte Susi interessiert, dann setzte sie ihre Lesebrille auf. "Na sowas." Sie blätterte durch die Seiten. "Der Mann ist echt schlecht im Verstecken - Oh, sieh mal! Den hat er angekreuzt!" Susi deutete aufgeregt auf einen kleinen, teuren Ring. "Das ist der, den er für dich bestellt hat. Da bin ich mir sure", sagte Mareike nickend. Susi legte den Kopf schief. "Ganz schön, eigentlich..." Unten klingelte es an der Haustür, doch keine der beiden Frauen machte Anstalten zu öffnen. Stattdessen blätterten sie weiter durch den Katalog. Derweil leutete es erneut, enetgischer dieses Mal. "Türe!", brüllte Susi. "Chill", antwortete Ella von irgendwoher, dann polterten die Treppen und die Tür wurde geöffnet. Wenig später kam Ella wieder hoch, beide Hände hinter dem Rücken. "Wer war das?" Susi fixierte sie über ihre Brillengläser hinweg. "Zeugen Jehovas", sagte Ella. "Wie, so schnell konntest du die abwimmeln?", platzte Mareike heraus. Ella zuckte bloß die Schultern. "Ich muss mir echt neue Taktiken einfallen lassen..." Mareikr schüttelte den Kopf. "Mach doch einfach direkt die Tür zu", schlug Susi vor. Mareike verdrehte die Augen. "Dann schieben die ihre blöden Heftchen durch den Briefschlitz. Danach sieht mein Flur aus wie ein Papiermüllcontainer." "Du musst den Briefschlitz verstopfen. Mit 'nem Handtuch oder so." Susi legte den aufgeschlagenen Katalog unter ihr Kissen. Mareike winkte ab. "Spätestens wenn Jochen den Hochdruckreiniger rausholt, nehmen die ihre legs in die hands." "Legs in die hands", wiederholte Susi kopfschüttelnd. "Na ja", warf Ella ein. "Ich fahre jetzt Stephen besuchen." Susi presste ihre Kiefer aufeinander. Mit dem Zeigefinger zeigte sie anklagend auf Ella. "Du willst mich nicht mit meinem Fast-Mann betrügen, oder?" Ella schüttelte vollkommen perplex den Kopf. "Nein", sagte sie schnell. "Ich.. er zeigt mir nur ein bisschen sein Büro. Ich will vielleicht auch Drehbücher schreiben, wenn ich - äh - groß bin." Mit den Fingern hinter ihrem Rücken bearbeitete sie nervös die kleine Ringschachtel, die der Postbote gebracht hatte.

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Kai wartete am Schultor. In seiner Hand hielt er einen Motorradhelm, den anderen hatte er sich unter den Arm geklemmt. In Ana's Magengegend zog sich etwas zusammen - sie wusste nicht, ob vor Wut oder vor Angst. Bei Kai wusste man nie, was auf einen zukam. "Hey", sagte sie, nachdem sie einige Meter vor ihm stehengeblieben war. Sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen! Entschlossen reckte sie das Kinn und schüttelte ihr dunkelbraunes Haar. Kai lächelte schief - mit diesem Lächeln hatte er ihr Herz damals im Sturm erobeter. Damals. Es war Vergangenheit, das musste Anastasia sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. "Was auch immer du vor hast", sagte sie mit einem Wink zu den Mitorradhelmen, "wenn du mich in einer halben Stunde nicht hier absetzt, dann knallt's." Kai nickte, immer noch lächelnd. "Hier." Er hielt ihr dein einen Helm hin. Abastasia rührte sie nicht vom Fleck, während sie langsam den Arm ausstreckte. "Komm schon. Ich beiße nicht", neckte Kai sie. "Da bin ich mir nicht so sicher", fauchte sie und riss den Helm zornig an sich. Mit einer energischen Bewegung stülpte sie ihn sich über den Kopf. "Überhaupt!" Sie warf die Arme in die Luft. "Was wird das hier?" Kai griff fest nach ihrer Hand und zog sie zu seinem Motorrad. "Mira hat mich auf die Idee gebracht", erklärte er schmunzelnd. "Sie wird dafür büßen", sagte Ana finster. "Und wie sie dafür büßen wird."

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