Das Kapitel, in dem Vater und Tochter im Lot sind

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Kaum hatte Mira nach Schulschluss ihren Klassenraum verlassen, kramte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Stephen an. Heute war der Tag des Antrages und obwohl dieser erst um siebzehn Uhr geplant war, wusste sie lieber schon jetzt, wann das perfekte Antragsteam wo zu sein hatte. Stephen klang gestresst, als er sich endlich am anderen Ende der Leitung meldete. "Hi, Stephen", sagte Mira und gab Jerome, der aus einem der anderen Räume strömte, einen flüchtigen Kuss. "Was ist los?", fragte Stephen; im Hintergrund schepperte es. "Wo bist du?" Mira hielt sich die andere Hand ans Ohr, um besser hören zu können. Jerome neben ihr runzelte fragend die Stirn, sagte jedoch nichts. Braver Junge. "Am Hauptbahnhof", erwiderte Stephen knapp. "Ich war in der Mittagspause mal woanders essen und muss jetzt zurück zum Parkplatz, und der ist an der anderen Seite des Bahnhofes - Nein, danke, ich will Ihrer dämlichen Sekte nicht beitreten!" Letzteres war wohl kaum an Mira gewandt, deswegen wartete sie ungeduldig. "Okay", sagte Stephen schließlich. "Zeugen Jehovas." Mira lächelte kurz, obwohl er das ja nicht sehen konnte. "Machst du früher Schluss?", wollte sie dann wissen. "Ja", antwortete Stephen. "Hör zu, such gleich mal bitte Ana und Moritz und sag ihnen, dass sie bitte schon eine Stunde eher an der Ausstellungshalle sein sollen. Und bereitet euch darauf vor, dass Oma und Opa Kreschmeyer da sein werden!" "WAS?" Mira fiel vor Schreck fast das Handy aus der Hand. "Stephen, sag mir bitte, dass ein Plan dahinter steckt." "Natürlich steckt ein Plan dahinter", brummte Stephen. "Und jetzt such sofort Anastasia und Moritz! Es ist wichtig, dass ihr heute alle zusammenbleibt." "Ja, ja." Mira konnte sich nicht daran erinnern, wann Stephen so autoritär geworden war. "Ja ja heißt 'Leck mich am Arsch'", gab Stephen zurück. "Ja, ja", meinte Mira nur, dann legte sie auf. Jerome hatte immer noch die Stirn gerunzelt. "Das perfekte Antragsteam", murmelte Mira, als sei das die alles erklärende Antwort und gab ihm schließlich einen kurzen Abschiedskuss. "Ich muss los. Wir sehen uns!" Jerome langte blitzschnell nach ihrem Handgelenk, bevor Mira in der Menge verschwinden konnte. Männer und ihr Eigentumsinstinkt. "Jerome, bitte", maulte Mira. "Ich mein's ernst. Meine Mutter wird sich heute verloben, also nimm es mir bitte nicht übel." Jerome sah sie aus seinen braunen Augen tief an. "Krieg ich nicht mal einen vernünftigen Abschiedskuss?" Mira seufzte schwer, schaffte es jedoch nicht, sich ein Grinsen zu verkneifen, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte. "Okay", raunte sie durchtrieben. "Aber sei gewarnt: Dieser Abschiedskuss wird nicht ganz so vernünftig." Mit den Worten und ohne Jerome die Chance zu geben, darauf zu antworten, jagte sie ihm ihre Zunge in den Hals. Sie wusste, dass sie ihn damit völlig überrumpelte, aber es schien ihn nicht zu stören, denn er lächelte begeistert gegen ihre Lippen und machte sofort mit. Sie standen mitten im Schülerstrom, nicht einmal an einer Wand oder in einer Nische, und alle konnten sie sehen. Kleine Mädchen kreischten auf, ehe sie hysterisch kicherten, Jeromes Kumpel grölten beifällig, während die Oberstufenschüler sich kopfschüttelnd und genervt an ihnen vorbei drängten. Mira und Jerome fuhren erst auseinander, als ein Handyblitz den Gang erhellte - waren sie gerade fotografiert worden? Es war Luca, Larissas Freund, der lachend sein iPhone in die Höhe hielt. Neben ihm stand Larissa und lächelte Mira entschuldigend an. "Baby, ihr seid morgen in der Schülerzeitung", grölte Luca, ehe er seine Galerie durchblätterte. "Wartet - die sind alle unscharf geworden. Gebt mir noch mal ein paar Posen, das war super!" Jerome sah stirnrunzelnd auf Mira herab. "Willst du?" Mira zuckte die Schultern und biss sich auf die Zunge. "Warum nicht?" So prallten sie zum zweiten Mal völlig unverblümt aufeinander - bis eine übellaunige Anastasia Mira von Jerome fortriss und in eine Ecke zog. Mira schlug beleidigt Anas Arm weg. "Kann man nicht mal in Ruhe knutschen?" "Ich bin auf einer Mission", sagte Anastasia gedehnt, ehe sie sich ihre dunkelblaue Kapuze tiefer ins Gesicht zog. Auf ihrer Nase prangte eine Plastiksonnenbrille vom Ein-Euro-Shop. Mira deutete mit dem Zeigefinger darauf, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte. "Ernsthaft? Du hast dir in der Mittagspause 'ne Sonnenbrille gekauft?" "Und diese nahezu unmöglich schaffbare Mission verbietet mir, in Tränen auszubrechen", fuhr Anastasia unbeirrt fort. Ihre Nase war rot, dick und angeschwollen. Hä? Da fiel es Mira wie Schuppen von den Augen und sie schloss ihre große Schwester mitleidig in ihre Arne. "Du hast mit Tim Schluss gemacht!" "Ja", sagte Anastasia und schubste Mira sanft von sich weg. "Du kannst mich morgen liebend gerne dafür bemitleiden, und mir Eis kaufen und so weiter, aber heute wird mein Vater der Liebe seines Lebens einen Heiratsantrag machen und da ist Selbstbeherrschung gefragt. Ich will ihm mit meinem Geheule schließlich nicht den Abend verderben. Heute ist ein großer Tag für alle Kreschmeyers und alle Hoppes, deswegen werde ich mit meinen Bedürfnissen zurücktreten." Mira blinzelte. Das klang so... erwachsen. Sie überlegte kurz, ob sie an Anas Stelle wohl genauso selbstlos gehandelt hätte, aber die Antwort lautete Nein. Und selbst wenn sie versucht hätte, sich nicht ihren Gefühlen hinzugeben, wäre zumindest ihre Leber danach stark geschädigt. "Mann, bin ich froh, dass ich mich heute nicht getrennt habe", seufzte sie schließlich und griff ermutigend Anastasias Hand. "Ich könnte ganz bestimmt nicht so handeln wie du." Anastasia nickte nur - es war klar, dass sie darüber jetzt nicht reden wollte. Mira beschloss, das Thema zu wechseln. "Wir müssen Moritz und Henry finden. Ich habe gerade mit Stephen telefoniert und er hat ausdrücklich darum gebeten, dass das perfekte Antragsteam zusammenbleibt. Er will außerdem, dass wir schon um vier an der Ausstellungshalle sind. Keine Ahnung, was der geplant hat." "Das wüsste ich auch nur zu gerne", murmelte Anastasia, während sie mit den Augen den Flur absuchte. "Okay." Sie wendete sich wieder an Mira. "Wir machen das so: Ich suche Henry und du suchst Moritz. Wir treffen uns dann zuhause." "Aber wir sollen zusammenbleiben...", warf Mira verunsichert ein. "Ja." Ana ließ sich nicht beirren. "Und dafür müssen wir einander erst einmal finden. Es macht an dieser Stelle, mehr Sinn, sich zu trennen, glaub mir. Und sobald wir zuhause sind, steht dem perfekten Antragsteam ja nichts mehr im Wege." "Na gut", lenkte Mira etwas widerstrebend ein. Aber sie musste sich auf ihre Stiefschwester verlassen, immerhin war sie die Einserschülerin der Familie. Mira konnte womöglich noch viel von ihr lernen. "Dann gehe ich jetzt Moritz suchen", schloss sie. Ana nickte. "Richtig. Und ich Henry. Also, bis dann!" Anastasia winkte noch, ehe sie in der Menge verschwand. Mira sah ihr kurz hinterher, dann eilte sie ebenfalls davon.

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⏰ Last updated: Apr 19, 2015 ⏰

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