Das Kapitel, in dem es nur zwei Zimmer gibt

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Henry musterte den rotgelockten Mann und das dunkelhaarige Mädchen, das ungefähr so alt sein musste wie er, abfällig. So, da war sie, seine 'neue Familie'. Eigentlich ein ganz schön bedeutsamer Moment, aber außer seiner Mutter, die diesem Mann in die Arme flog und seinem Bruder Moritz schien sich keiner zu freuen. Mira kaute schmatzend und scheinbar gelangweilt auf ihrem Kaugummi herum, während sie ihre neue 'Schwester' in Augenschein nahm, die von den beiden genau das zu denken schien, was sie selber dachten:'Gott, sehen die scheiße aus'

"Ja, Mira, Henry, Moritz,  das sind Stephen, mein neuer Freund und seine Tochter Anastasia. Sie ist 17.", gluckste seine Mutter, während sie eng umschlungen mit Stephen dastand und ihren dicken Babybauch streichelte. Genau, Anastasia! Das war dieser Name gewesen, der Henry am Morgen nicht mehr eingefallen war und er musste sagen, er fand ihn ziemlich daneben.

Und während ihre Eltern nun damit beschäftigt waren, die Möbelpacker herumzu kommandieren, standen die vier Teenager immer noch da und wechselten hasserfüllte Blicke. Henry's Blick fiel auf Anastasia's abgetragene, weiße Converse und er konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. "Trägst du die 24 Stunden am Tag?" Mira lachte kurz auf. "Isso", meinte sie dann. Erst lächelte diese Anastasia, dann versteinerte sich ihre Miene. "Nein, aber im Gegensatz zu dir kann ich mir bessere Hobby's leisten, als meine Schuhe mit der Zahnbürste auf Hochglanz zu polieren." Okay, er hatte sie offensichtlich unterschätzt. Dieses Mädchen war frech, selbstbewusst, hatte etwas arrogantes und schien auf alles einen guten Konter zu finden. Eine Weile sah sie ihn abwartend an, dann lächelte sie triumphierend und rauschte ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei. Verdammt! So hatte er sich den ersten Eindruck nicht vorgestellt, aber wie es aussah, war soeben ein Mädchen in sein Leben getreten, dass seinen kühlen Kopf und eine Menge Stress erfordete.

Henry fluchte leise vor sich hin, dann ging er ebenfalls ins Haus, gefolgt von Mira, die ihm heute unangenehm an den Fersen hing. "Musst du mir die ganze Zeit hinterherlaufen?", fragte er genervt und drehte sich zu seiner kleinen Schwester um. Sie zuckte mit den Schultern. "Kannst du es dann bitte lassen?", fragte er, woraufhin sie erneut mit den Schultern zuckte. "Seh' ich so aus?" Doch dann schlängelte sie sich an ihm vorbei und eilte durch die Haustür. Als er in den Flur trat, wartete dort die ganze Mannschaft versammelt auf ihn. "Dieser Moment ist von ganz großer Bedeutung!", sprudelte seine Mutter, die bereits ein Glas Prosecco in der rechten Hand hielt. "Ich dachte, Schwangere dürfen keinen Alkohol trinken.", sagte Anastasia, die äußerst genervt auf der untersten Treppenstufe saß. Ihre Stimme hallte von den Wänden des Flurs wieder. Henry's Mutter wurde rot und drückte ihr das Glas rasch in die Hand. "Richtig", sagte sie schnell, "das war ja auch für dich bestimmt." Anastasia rollte mit den Augen und kippte den Sekt zu Henry's Überraschung in einem Schluck hinunter. Danach verzog sie das Gesicht und schüttelte sich. Schließlich wandte sie sich wieder an die Eltern. "Können wir das schnell hinter uns bringen, das ist mir irgendwie ein bisschen zu viel Harmonie gerade." Henry bewunderte dieses Mädchen, obwohl er es nicht bewundern wollte, er durfte nicht. Er musste sie hassen, schon aus Prinzip. Außerdem trieben ihn Mädchen, die viel laberten in den Wahnsinn, und das würde Anastasia früher oder später auch noch tun, denn sie laberte außerordentlich viel.

"Wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht.", verkündete ihr Vater und Anastasia stöhnte auf und vergrub das Gesicht in den Händen. "Wir sind endlich zusammengezogen!", rief Henry's Mutter fröhlich. "Und jetzt die gute Nachricht?", seufzte Anastasia. Henry konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Dieses Mädchen war echt gerissen und besaß eine Menge Ironie. "He, lach gefälligst über deine eigenen Witze!" Gut, das Lachen verging ihm sofort, denn er musste sich erstens korrigieren, weil es zweitens nur lustig war, solange sie andere Leute mit ihrer Art fertigmachte und er deshalb drittens der völlige Versager war.

"Nein, das war die gute Nachricht", sagte seine Mutter unbeirrt und lächelte Anastasia's Vater zu. Dann küssten sie sich. Pfui, das konnte ja ekelig sein, schleimig schmatzige Elternküsse. Eines wusste Henry, und das brauchte er nicht in der Bibel nachzuschlagen: die Hölle wartete auf ihn.

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Oah, jetzt küssten sie sich auch noch. Eine Gänsehaut kribbelte über Anastasia's Unterarm und sie war sich zu tausend Prozent sicher, dass dies keine Kitschi-Gänsehaut war, sondern eine von der 'Uh-ich-muss-gleich-kotzen-Gänsehaut'. Unwillkürlich musste sie an ihre beste Freundin Ella denken, die sich womöglich in diesem Moment an den Fitnesstrainer ihres Aerobickurses ranschmiss, oder bereits in einer unentdeckten Ecke des Strandes mit ihm 'verschmolz', wie sie es höflich ausformulierte.

"Die schlechte Nachricht- es gibt nur zwei Kinderzimmer", drang die Stimme ihres Vaters zu ihr durch und binnen Sekunden verstand sie, was das bedeutete. "Nicht euer Ernst?!", platzte sie heraus und sprang auf, zum einen, weil ein Möbelpacker sich mit den Einzelteilen ihres Bettes an ihr vorbeiquetschte, zum anderen, weil sie es im Sitzen nicht aushielt, so geladen war sie. "Leider doch", antwortete ihr Vater, der diesen Anfall bereits vorausgesagt hatte und deshalb dafür gewappnet war. "Warum habt ihr das Haus dann gekauft?", brüllte sie und stampfte mit dem Fuß auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie dieser Henry einen Schritt zurückwich und musste sich innerlich für ihr Auftreten und den darausfolgenden ersten Eindruck loben. Schon innerhalb von fünf Minuten hatte sie einen natürlichen Keil zwischen sich und die anderen getrieben, das sollte ihr erst mal einer nachmachen!

Aber dann dachte sie wieder an die Tatsache, dass dieser Keil anscheinend nichts brachte und sie trotzdem mit einem dieser Kinder ein Zimmer teilen würde, ob sie wollte oder nicht! Gut, sie konnte im Garten schlafen, aber der Jahreszeit entsprechend wäre dies eine äußerst unangenehme Maßnahme und sie würde diesen Schritt auf keinen Fall wagen. Sie war stärker als die anderen und würde das irgendwie hinkriegen. Vielleicht würde sie mit diesem kleinen Moritz auf ein Zimmer kommen, dann könnte sie ihn zwingen, für sie aufzuräumen, denn er schien ihr eine recht schwache Persönlichkeit zu sein. Aber das machte ihre Wut noch lange nicht wett. "Es gab hier in der Nähe kein Haus mit so vielen Zimmern, das gibt es generell nicht.", entschuldigte sich ihr Vater. "Oh doch, das gibt es! Die Wollny's haben auch ein großes Haus und sie sind nicht reich! Was ist also der Grund, uns das anzutun?", zischte sie, ohne Rücksicht auf die hochschwangere blonde Kreatur, die mit diesem Ausraster wohl nicht gerechnet hatte und haltsuchend nach der Schulter ihres Vaters griff. "Gut, wir wollten, dass ihr euch kennenlernt. Dass Projekt 'Geschwisterliebe' dadurch vielleicht ins Rollen gebracht wird.", antwortete dieser. "Was jetzt nicht unbedingt der Fall ist", sagte Anastasia und wie eben lächelte sie erst und ließ dann ihre Miend versteinern. "Aber dafür habt ihr den Stein 'Wir-hassen-unsere-Eltern' mehr als nur ins Rollen gebracht!", fügte sie lautstark hinzu und erklomm die ersten Stufen, um sich wenigstens das schönere Zimmer zu verschaffen, das sie sich höchst wahrscheinlich mit dieser kaugummikauenden Tussi teilen würde, die glaubte, mit ihren 14 Jahren entdecke sie das Leben! Also wirklich, sowas konnte man durchaus Arschkarte nennen!

Vollkommen orientierungslos stolperte Anastasia durch die Flur und öffnete eine der Türen. Okay, im Badezimmer wollte sie jetzt nicht gerade ihr Lager aufschlagen, also suchte sie weiter. Sie fand einen Raum mit sonnengelb gestrichenen Wänden, aber seit diesem Tag hasste sie fröhliche Farben und noch dazu war dieses Zimmer viel zu klein!

Dann endlich betrat sie einen Raum, dessen Wände mit weißen Holzvertäfelungen besetzt war und der wesentliche größer war als der gelbe Punkt dieses Hauses.

Sie ließ sich im Schneidersitz auf den Boden fallen und beschloss, dass dies ihr Zimmer, beziehungsweise ihre Zimmerhälfte sein würde.

Wenig später war's das auch schon mit der Ruhe, denn Mira kam heringeplatz und warf Anaatasia einen abfälligen Blick. Anastasia wollte gerade etwas freches erwidern, aber sie hielt sich dann doch lieber zurück, denn wenn sie es sich genau überlegte, hatte sie keine Lust auf noch mehr Streit. Aber Mira schien es darauf anzulegen. "Ich werde eine Wand ziehen", schaubte sie und setzte sich ebenfalls auf den Boden, während sie Anastasia mit ihren grauen Augen anfunkelte. Blonde, krauselige Locken fielen auf ihre Schulter herab. "Ich werde ausziehen", entgegnete Anastasia schulterzuckend. "Oh, das würde mich natürlich nicht weniger reizen", schnurrte Mira und erhob sich. Sie warf Anastasia noch einen letzten, verhassten Blick zu, dann stolzierte sie aus dem Raum. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Okay, wie sie meimte. Sie wollte Krieg, sie würde Krieg bekommen!

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Hi! Freut mich ja, dass ihr täglich mehr werdet und ich zwei Kommis bekommen habe! *-* bitte macht weiter so, das ermutigt voll! <3

Achtung Patchwork!Where stories live. Discover now