Kapitel 35

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Leyla stand auf einer Art Brücke über dem Deck. Sie war nervös, Firat erneut gegenüber zu stehen. Einerseits wusste sie, dass sie überlegen waren, andererseits hatte sie auch nicht vergessen, wozu der Mann fähig war und war sich bewusst, mit allem Möglichen rechnen zu müssen. Eine gefährliche Mischung aus Hass und Angst tobte in ihr. Und dann war es plötzlich soweit. Er stand vor ihr, einfach so. In Handschellen an Nick Tschiller gebunden. Sie hätte lügen müssen, um zu behaupten, dass der Anblick ihr nicht gefiel. Der Mensch, der ihr alles genommen hatte, stand geschwächt und verraten vor ihr. "Wo sind meine Frauen?", rief der Kommissar. Leyla überhörte die Frage jedoch. Ihr Fokus lag auf jemand anderem. "Firat", sprach sie ganz ruhig. "Leyla?" Der Mann sah hoch. "Ich habe gesagt, ich werde dich töten." Noch immer war ihre Stimme ruhig. "Wo sind sie? Ich will sie sehen!" Nick machte wieder auf sich aufmerksam. "Du kannst sie haben, ich will nur ihn." Leyla war selbst davon überrascht, wie emotionslos ihre Stimme klang. "Erschieß sie. Dann kriegst du deine Frauen", befahl Firat. "Er hat sie nicht", lenkte Leyla ein. Sie funkte Akim an, die Frauen freizulassen, erhielt aber keine Antwort von diesem. "Akim, was soll denn der Mist? Antworte gefälligst und bring die Frauen her, verdammt!" Diese Funkstille machte sie nervös. "Was ist?", schrie Nick ihr entgegen. "Ich hole deine Frauen." Bevor sie ging, warf Leyla Vlad noch einen Blick zu, der ihm bedeutete Tschiller und Firat im Auge zu behalten.
Nach und nach trat sie sämtliche Türen des Schiffsinneren auf, die Waffe dabei geladen und gezückt in der Hand. An der Küche lief sie in ihrer inneren Unruhe daran vorbei. Yalcin, Lenny und Isabella hatten sich hinter dem Tisch versteckt, um auf das angeforderte Team zu warten. Der Kommissar lugte gerade hinter diesem hervor, als Leyla an der Tür vorbeilief. Wieder einmal fragte er sich, was sie wohl dazu angetrieben hatte, diesen Weg zu gehen. Leyla war jedoch genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Yalcin lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die zwei Frauen, die ihn verängstigt ansahen. Es fehlte ihnen, soweit er das beurteilen konnte, an nichts. Weil er aber sichergehen wollte, fragte er nach. "Wie ist es euch hier eigentlich ergangen? Fehlt euch irgendwas?" Schnell schüttelten beide den Kopf und Isabella ergriff das Wort. "Nein, uns geht's wirklich gut. Wir haben ausreichend Essen und Trinken bekommen. Pizza oder Nudeln zum Beispiel. Eine 'Toilette' hatten wir auch. Sie war zwar ziemlich improvisiert, aber vorhanden." Das machte das Ganze in Yalcins Augen nur noch konfuser, bis ihm plötzlich ein Gedanke kam. "Es ging gar nicht um die Frauen", hauchte er. "Was?", fragte Lenny. Er zuckte zusammen. Diesen Gedanken hatte er nicht laut aussprechen wollen und doch war es das einzig Sinnvolle. Aber worum ging es dann? Um Nick? Leyla hatte ihn nicht erschossen, als sie die Möglichkeit dazu hatte. Warum? War er das eigentliche Ziel? Nein, sie hätten ihn wohl kaum alleine zurückgelassen, wenn dem so wäre. Aber wen könnte Firat Astan sonst wollen? Zu viele Fragen, auf die Yalcin keine Antwort hatte. "Wo ist Papa?", fragte Lenny nach einer Weile  leise, sie ertrug diese drückende Stille nicht mehr. "Bete, dass er auf dem Weg nach Landshut ist", gab Yalcin ebenso leise zurück. Er hoffte wirklich das Beste für seinen Partner. Erneut wurden Schritte auf dem Gang hörbar, weshalb Yalcin sicherheitshalber zu seiner Pistole griff. Die Tür wurde aufgestoßen und er sprang auf, um mögliche Gegner zu überraschen. Dabei blickte er jedoch selbst in den Lauf einer Waffe. Der Waffe von Nick. Nachdem beide realisiert hatten, wer vor ihnen stand, löste sich die Anspannung und sie ließen die Waffen sinken. "Da ist der Papa", seufzte Yalcin. Erst jetzt bemerkte Nick die beiden Frauen, die sich noch immer hinter dem Tisch zusammenkauerten. Langsam richteten sie sich auf und fielen ihm in die Arme. Yalcin postierte sich in Türnähe, um der Familie mehr Schutz zu bieten.
Leyla hatte inzwischen auch die anderen Räume abgesucht und war zunehmend verzweifelter geworden, da alle leer waren. Als sie plötzlich einen Knall wie den einer Tür hörte, hielt sie kurz inne und versuchte, das Geräusch zu orten. Vorsichtig schlich sie zurück, immer darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Eine Tür im Gang stand offen, das konnte sie sehen. Lautlos bewegte sie sich auf diese zu und lugte in den Raum hinein. Dort waren sie. Die zwei Frauen, vereint mit Tschiller. Sie drückten sich fest aneinander und Leyla erkannte den glücklichen und erleichterten Ausdruck auf ihren Gesichtern. Wie lange hatte sie diese Gefühle schon nicht mehr erlebt? Wie lange war es her, dass sie so etwas genießen durfte, eine Familie? Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen. Das Bild nahm sie so sehr ein, dass sie alle Vorsicht vergaß und weiter in den Eingang trat. Dort wurde sie von Yalcin bemerkt, der seine Waffe auf sie richtete. Hastig hob sie beide Hände, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Jedenfalls, was ihr Hände anging. Auch sie trug eine Pistole bei sich, holte diese nun aber langsam mit einer Hand hervor und legte sie auf den Boden. Dabei hielt sie die ganze Zeit Augenkontakt zu Yalcin. Auch, als sie die Waffe mit dem Fuß in seine Richtung schob, brach dieser nicht ab. Auch die anderen drei hatten Leyla inzwischen bemerkt. Nick wollte gerade auf sie losgehen, als Isabella ihn zurückhielt. "Nicht! Sie wird uns nichts tun, vertrau mir. Leyla sollte selbst gar nicht hier sein." Alle starrten sie überrascht an, ganz besonders Leyla. Es war neu für sie, dass jemand Partei für sie ergriff und sich für sie einsetzte. Auch Yalcin war überrascht von Isabellas Worten. Tief in sich hatte er sich etwas in dieser Art gewünscht, doch, dass es nun wirklich so sein sollte, überraschte auch ihn. "Geht jetzt", sprach Leyla so fest sie konnte, "Ihr seid frei." Nick führte seine Frauen aus der Küche raus, während Yalcin und Leyla sich noch immer kein Stück bewegten. "Du... Du sprichst Deutsch? Du hast an der Halle alles verstanden?!" Yalcin konnte es immer noch nicht glauben. "Ja. Durfte nichts sagen, tut mir leid", gestand sie. "Und was meinte Isabella da gerade? Dass du gar nicht hierher gehörst?", er versuchte die Anspannung aus seiner Stimme zu nehmen. "Wenn das stimmt und du gegen deinen Willen hier bist, dann kann ich dir helfen. Du musst nur mit mir sprechen, Leyla." Dass das die schwerste Aufgabe war, war ihm natürlich nicht bewusst. Erst, als Leyla anfing, zu zittern, merkte er, dass mehr hinter ihrer Geschichte stecken musste. Wiedererwartend begann sie plötzlich, zu reden. Erst zögerlich, doch dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Während ihrer Erzählung begann Leyla, in der kleinen Küche herumzulaufen. Sie erzählte Yalcin alles, sogar ihre Gefühle versuchte sie zu erklären, was ihr besonders schwer fiel. Alles nochmal zu erleben, machte ihr zu schaffen, weshalb sie sich irgendwann abwandte und mit dem Gesicht zur Wand stehen blieb. Als sie geendet hatte, dauerte es einen Moment, bis Yalcin richtig verstanden hatte, was sie ihm alles erzählt hatte. Er empfand tiefes Mitgefühl für die schöne Frau, die ihn vom ersten Blick an nicht kalt gelassen hatte. Langsam näherte er sich ihr und berührte sie zaghaft an der Schulter. Abrupt drehte Leyla sich um und sah ihn mit glasigen Augen an. "Hilf mir!" Er nickte. "Das werde ich. Du kommst hier raus und wirst normal leben können, ganz sicher." Da er sie nicht einengen wollte, blieb er einfach an Ort und Stelle stehen und wartete auf ein Zeichen ihrerseits. Doch auch für Leyla war die Situation schwierig. Sie hatte bisher nur schlechte Erinnerungen an Männer gehabt, jedoch strahlte dieser hier etwas ganz anderes aus als alle anderen. Ganz langsam ging sie einen Schritt auf ihn zu, starrte dabei permanent in seine Augen, die eine unglaubliche Wärme inne hatten. Ihr kam es absolut absurd vor und doch ging sie den nächsten Schritt. Diesem Mann hatte sie sich einfach so geöffnet wie ein Buch und alles preisgegeben, was sie all die Jahre verdrängen wollte. Er hatte einfach zugehört und noch mehr als bei Isabella hatte sie das Gefühl, ein gleichwertiger Mensch zu sein. Aus einem inneren Reflex heraus, schmiss sie sich gegen seinen Oberkörper und schlang die Arme um ihn. Kurze Zeit danach konnte sie spüren, dass sich auch seine Arme um sie legten. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte und diese einfache Umarmung gaben ihr den Rest und sie ließ die ganzen verdrängten Tränem einfach laufen, während Yalcin sie etwas unsicher hielt und immer wieder ihren Rücken tätschelte.

"Und Sie sind sich sicher, dass Sie aussagen möchten?", fragte die Kommissarin. Leyla nickte. Yalcin hatte ihr noch an Bord des Schiffes erklärt, was auf sie zukommen würde und nun war sie so weit, ihre Geschichte noch ein weiteres Mal zu erzählen. Firat war inzwischen in Landshut inhaftiert und bei einer Razzia waren auch die letzten seiner Männer erwischt worden. Die anderen verschleppten Mädchen wurden ebenfalls verhört, unter ihnen war auch Corinna. Man hatte den Mädchen eine Therapie angeboten, die in Deutschland startete und in der Ukraine weitergehen könnte, wenn sie zurpckkehren wollten. Nachdem Leyla ihre Aussage getätigt hatte, vergingen  zwei Tage, bis sie mit Corinna ins Flugzeug stieg und in Odessa endlich wieder auf ihre Eltern traf, die sie überglücklich und erleichtert in die Arme schlossen.
ENDE

Ihr Lieben, das war sie nun, meine Idee  von Leylas Geschichte. Wie ihr merkt habe ich das Ende etwas abgeändert, ich konnte sie einfach nicht töten. 🙈😅 Ich hoffe, euch gefällt es trotzdem. 🤗 Tausend Dank an alle, die mir bis zum Ende treu geblieben sind, obwohl ihr so lange auf Teile warten musstet 🙊 Auch dieser hier ließ lange auf sich warten, ich habe immer mal ein bisschen geschrieben, war aber oft total unzufrieden damit und habe es wieder gelöscht. Hinterlasst mir gerne mal ein Feedback zur Story! Danke nochmal an alle Leser, dass ich meine Gedanken mit euch teilen durfte! ❤
Maja

Sie nannten mich EisprinzessinWhere stories live. Discover now