31. Kapitel

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"Ist alles verziehen und vergessen?", fragt Michael.

Wir beide sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Seitdem wir uns vertragen haben, haben wir nichts mehr gesagt. 
"Ich habe dir verziehen, doch vergessen ist so eine Sache. Es ist okay. Lass uns nicht mehr darüber sprechen", meine ich.

Er schluckt hörbar.

"Bitte fahr mich nicht direkt an, aber auf Urlaub hätte ich wirklich Lust. Ich habe, als du weg warst, um mich abzulenken, ein paar Preise noch verglichen. Da habe ich einen  preiswerten Flug plus Unterkunft gesehen. Was hältst du von Teneriffa? Die Bilder vom dem Meer sahen toll aus. Blaues, durchsichtiges Wasser. Es regnet in diesem Monat nicht und es ist nie kälter als 20 Grad und nicht wärmer als 26. Das ist das beste Wetter, was man haben kann. Es gibt auch viele Sehenswürdigkeiten. Ich möchte ungern ohne dich fliegen, weil ich mir Sorgen machen würden und alleine in den Urlaub, na ja. Da würde ich bestimmt neue Bekanntschaften treffen, aber das will ich gar nicht. Es geht sich darum, dass ich nicht ohne dich fliegen will. Also, was hältst du davon?"

"Wann würden wir fliegen", frage ich als erstes zurück.

"Schon übermorgen. Deswegen müsste ich eigentlich jetzt alles buchen."

Nun muss ich eine Entscheidung treffen und ich weiß nicht, welche. Entscheidungen und ich sind nicht die besten Freunde.

"Claire, denke an die Nemos und Doris, mit denen du schwimmen könntest. Allgemein einfach mal aus dem öden Alltag fliehen. Aus London fliehen. Nichts machen. Die Seele baumeln lassen. Vollkommen genesen. Nach der Woche können wir Energie geladen von vorne anfangen. Verstehst du was ich meine?"

Noch immer bin ich in Zwiespalt. Steven wollte auch immer in den Urlaub. Jetzt habe ich die Chance und könnte etwas erleben, aber mein Bruder hatte nie die Chance, so etwas derartiges überhaupt zu unternehmen. Wäre es kein Verrat an ihm? An jedem meiner Familienmitglieder?

Komische Geräusche gebe ich von mir. Ein wenig Gestotter und Gejaule. Eigentlich etwas, worüber man lacht, doch keiner von uns beiden lacht ansatzweise.

"Ich weiß, woran du denkst. Versetz dich mal in die Lage deines Bruders oder andere deiner Familienmitglieder. Er ist im Himmel und sieht von dort oben herab. Beobachtet dich und passt auf dich auf. Was würde er wollen? Dass du traurig bist und hier verottest? Oder dass du glücklich bist und in den Urlaub fliegst. Etwas mehr von der Welt siehst. Einen Traum von dir erfüllst. Eines darfst du niemals vergessen. Auch wenn dein Bruder, oder jemand anderes nicht mehr physisch da ist, er ist immer da. Wenn jemand stirbt, lebt ein Teil von ihm in dir weiter. In deinem Herzen. Genau da."

Nach Michaels kleiner, aber wundervollen Rede, tippt er mir genau aufs Herz. Dieses pumpt stark. Ich habe schon das Gefühl, dass man es hören kann, so laut ist es.

"Claire. Wenn du etwas erlebst, erleben deine Liebsten es auch. Denn sie sind bei dir", flüstert er zum Schluss.

Durch diesen Satz ist meine Entscheidung gefallen. Ich gehe mit nach Teneriffa.

Am nächsten Tag ist Wäsche waschen und Koffer packen angesagt. Michael hat gestern sofort nach meiner Zusage alles gebucht und ich habe die Hälfte des Geldes auf sein Konto überwiesen.

Am Abend kommt Michael mit seinem ganzen Gepäck zu mir und ich, ich bin schon so nervös, dass ich nicht mehr still sitzen kann. Ich habe angst, dass ich etwas vergessen habe einzupacken. Und ich habe angst vor dem Flug. Oh manno man. Ich habe angst vor allem.

"Du musst nicht nervös sein, es wird alles gut", meint Michael, als wir im Bett liegen.

Natürlich bin ich mal wieder hellwach und an Schlaf ist gar nicht zu denken. Diesmal, weil Nervosität durch mein ganzen Körper fließt. Andere, als sonst.

No Reason to LiveWhere stories live. Discover now