22. Kapitel

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MICHAELS SICHT

In meinem Herzen schmerzte es, als ich Claire hilflos auf den Boden sah. Eigentlich wollte ich warten, bis die Brünette selbstständig aus dem Badezimmer rauskommt, doch konnte ich nach einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr warten.
Die Sorgen um sie waren einfach zu groß.

Und dann lag sie da, mit nassen Wangen, den Blick in die Ferne gerichtet. Nicht dort, nicht hier. Ich fing an zu reden und zu reden und mir Schuldgefühle zu machen. Es ist meine Schuld, denn ich hätte sie nicht so bedrängen sollen. Warum frage ich auch, ob wir zusammen ziehen wollen? Ich war mir mit der Entscheidung sicher und jetzt zweifel ich an allem.

Ich bin kein Psychiater, wenn überhaupt ein Amateur. Was habe ich mir gedacht, so eine große Last auf die Schultern zu setzen? Wenn sie sich was antut, dann bin ich schuld. Dann habe ich wieder versagt.

Die Kleine krallt sich in meine Arme. Ihre Augen sind geschlossen, schon fast zu gekniffen. So gerne würde ich wissen, was sie geträumt hat.

Als Claire aufgestürmt ist, habe ich nicht Marybeth gesehen, wie sonst oft, sondern mich selbst. Ich habe mich gesehen, wie ich alles übergeben hatte, was in meinen Magen war.
Und als ich dort im Wohnzimmer saß, kamen die alte Erinnerungen in meinem Kopf wieder. Nicht die schrecklichen, sondern die guten.

Ich bin so froh, dass es mir nicht mehr so geht wie Claire. Dankbar wie kein zweiter, bin ich, aber dieses Gefühl verblasste wieder.

Denn dieses Mädchen, dass vor mir liegte und Schmerzen erlitt, konnte ich nicht helfen. Aber Wörter kamen über meine Lippen und ab dem Zeitpunkt war mir klar, dass ich egal wie doll ich mich anstrengen würde, wie gut ich kochen würde, wie lange ich Harry Potter gucken würde, dieses Mädchen womöglich bald verlieren könnte. Denn ihre Depressionen sind schlimm und ihre Wille weiter zu leben, gering.

"Ich will nicht schlafen, ich will keine Alpträume haben", flüstert Claire von Tränen ertrunken.

"Weiß ich, meine Liebe, weiß ich doch. Wir werden uns einfach zusammen wachhalten, dann hat keiner Alpträume."

Behutsam lege ich Claire ins Bett. Sie rutscht bis zur Wand hoch und zieht die Beine zur Brust heran. Vorsichtig setze ich mich neben sie. Die Müdigkeit, die vorhin noch mein Körper geschwächt hat, ist nun verklungen.

Wir beide starren in die Ferne. Mir fallen keine Worte mehr ein, die ich laut aussprechen könnte. Nicht im geringsten fällt mir etwas ein, aber das muss auch gar nicht sein, denn Claire meldet sich von alleine zu Wort.

"Mein Psychologe meinte mal zu mir, dass ich darüber reden soll, was mich bedrückt. Wovor ich Angst habe. 
Darf ich dir meinen Alptraum erzählen?",fragt sie zögerlich.

So wie sie neben mir sitzt, sieht sie noch zerbrechlicher aus, wie nie zuvor.
"Natürlich, du kannst mit mir über alles reden. Von mir auch über Sex"

Den Hauch Humor, den ich einbringe, verblasst sofort in den halb dunklen Zimmer. Wenn nicht mal Witz hilft, egal wie schlecht es ist, weiß man, dass die ganze Situation mehr als brenzlig ist.

"Vielleicht kommen wir auf das Thema Sex später zurück", murmelt Claire.

Wie es aussieht, ist noch nicht alles verloren. Ein kleines Schmunzeln geht mir über die Lippen.

"Beim Alptraum ging es um dich."

Und schon ist mein Schmunzeln verloschen.

"Also jetzt nicht nur um dich, aber hauptsächlich schon", sagt Claire vorsichtig. "Es war eine Metapher, dafür, wovor ich Angst habe und ich habe Angst um dich.

No Reason to LiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt