14. Kapitel

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CLAIRES SICHT

Ein Tag geht wieder vorbei.
Ein Tag, der für jeden Menschen anders verlaufen ist. Der eine hat geheiratet und ist auf dem Weg zu den Malediven mit seiner Ehefrau.
Beide glücklich wie noch nie.
Jemand anders hat eine wichtige Person verloren, oder aber auch jemand kennen gelernt, der nicht so schnell aus ihrem Leben verschwinden wird.
Frauen haben Kinder geboren, Leute sind gestorben und andere liegen erschöpft auf der Brust der Mutter.
Vom jeden ist der Tagesablauf anders, doch auch auf einer Seite gleich.

Für mich war der Tag so wie fast immer, doch wieder herum auch nicht. Trauer und Schmerz sind seit einem Jahr Bestandteil meines Lebens. Heute war es komisch. Genau weiß ich es auch nicht. Ich habe das Gefühl, dass Michael und ich nochmal aufeinander stoßen werden. Ob ich das will ist die große Frage. Er scheint nett zu sein, aber der Schein kann trügen.
Aber ich muss gestehen, die Umarmung hat mir gut getan. Es war schön mal wieder etwas Liebe zu spüren, auch wenn man das nicht als Liebe zwischen uns bezeichnen kann.
Michael strahlt eine Ruhe und Verständis aus, als ob er genau weiß, wie ich mich fühle. Etwas in mir will wissen, was hinter diesem jungen Mann steckt. Was er schon alles ertragen musste.

Seit einer halben Stunde sehe ich mich, nur in Unterwäsche bekleidet, in meinem Spiegel an und zum ersten Mal wird mir wirklich klar, wie dünn ich doch bin. Ich kann mich nicht von meinem Spiegelbild lösen und mich in meinen Schlafklamotten hüllen. Vorher wusste ich schon, dass ich so dünn bin, aber so dünn nicht. Es ist erschreckend und beängstigend, wie ich meine Rippe zählen kann ohne meinen Bauch einzuziehen. Oder auch wie flach mein Bauch ist und meine Brüste. Ich bestehe nur noch aus Haut und Knochen. Jemand, der ich nie sein wollte. Als Teenager wollte ich nie die Modellmaße haben, sondern gesund sein. Freude am essen haben und nicht jedes Salatblatt umdrehen müssen. Und was bin ich geworden? Ein sogenanntes Magermodell, welches für Karl Lagerfeld modeln könnte. So sehe ich aus.

Ich bin doch selbst schuld an meinem Aussehen. Würde ich normal essen, dann würde ich auch normal aussehen. Doch geht es nicht, auch wenn ich es versuche und versuche und versuche.

Es tut mir in den Augen weh. Das einzigste Schöne an mir ist nun das Medillon und das gehört eigentlich nicht zu meinen Körper. Nie mehr werde ich es ablegen und den Brief, den werde ich gut aufbewahren und ihn lesen, wenn ich mein Bruder mehr als sonst vermisse. Ich werde seine Schrift bewundern. Er hatte so eine schöne Schrift. Sie erinnert mich ein bisschen an Niall Horan. Der Ire hat eine wunderschöne Schrift,
wie ich finde. Sehr sauber, so wie Steve. Ich hingegen bin dar reinste Chaos. Selbst kann ich meine Schrift lesen, mein Bruder und Freund auch noch, bei meinen Eltern fing es an und bei meinen Lehrern hörte es auf.

Von mir selbst angeekelt ziehe ich mir meinen Schlafanzug an. Nicht ohne vorher den Büstenhalter auszuziehen. Freiheit für meine Brüste muss sein! Auch wenn sie klein sind.

Auf meinem Schlafanzug und auf meiner kurzen Hose ist das Wappen von Gryffindor groß drauf gedruckt. Ich bin schon seit klein an ein großer Potterhead. Als ich alt genug war und richtig lesen konnte, habe ich Harry Potter gelesen. Sehnlichst auf den nächsten Film gewartet, auch wenn ich von den ersten Filmen enttäuscht wurde. Steve war auch ein Potterhead. Er hat mir diesen Schlafanzug gekauft und ich ihm den gleichen, nur von Slytherin. Das andere Hogwarts Haus. Die beiden sind Rivalen, aber Ausnahmen gibt es ja immer. Wäre der Brief zu unserem 11. Geburtstag gekommen und wären wir dann auch nach Hogwarts gegangen, wären wir womöglich in unseren Lieblingshäuser gekommen. Aber nur, wenn der sprechende Hut denkt, dass es das richtige Haus für uns wäre. Trotz den verschiedenen Häusern hätten wir uns trotzdem mit einander gut umgegangen. Dies haben wir uns versprochen, aber die Illusion ist schnell zerplatzt. Ab den 15. Lebensjahr haben wir aufgehört zu hoffen, dass Errol sich verflogen hat und sich deswegen der Brief verspätet. In unseren Träumen waren wir in Hogwarts und später auch mit David. Steve und ich haben ihn auch zu einem Potterhead gemacht. Er hat sich drauf eingelassen und bei unseren Harry Potter Marathons mit gemacht, was echt eine Leistung ist.
Fast 20 Stunden mit 2 Leuten aushalten, die fast die ganze Zeit mit reden und ein paar Szenen mit ihrer Uniformen und Zauberstäben nach schauspielern, ist mal eine Ansage.
Vor allem, wenn man danach die beiden nicht umbringt, sich nicht selbst umbringt, noch keine graue Haare hat und eine von den beiden küsst.

David hat es soweit ich mich erinnern kann, sogar Spaß gemacht und einmal beim Schauspielern mit gemacht. Das war auch einer diesen schönen Momente, die ich immer genossen habe. Jetzt habe ich das Gefühl es nicht genug genossen zu haben.
Das ich die ganzen Momente die wir zusammen hatten für selbstverständlich empfand. Alles, was wir zusammen getan haben, war normal, aber jetzt weiß ich es besser. Nichts was meine Jungs gemachten haben, war selbstverständlich. Das was sie für mich getan haben, egal was, ob es nur aufmunternde Worte waren oder eine tröstende Umarmung und nicht die unnötigen Sachen zu vergessen, die mir jetzt nicht mehr unnötig vorkommen.
Sofort unterbreche ich den Gedankenfluss und versuche an etwas anderes zu denken, aber alles erinnert mich an die beiden.

Sei es das Bild vom Eiffelturm an meiner Wand. Sei es mein eigenes Spiegelbild. Sei es die untergehende Sonne am Horizont. Sei es meine Narben. Einfach alles.

Ich verlasse mein Schlafzimmer fluchtartig und gehe ins Wohnzimmer, um dort den Fernseher an zu machen. Nicht um ein Film anzusehen, sondern um MTV einzuschalten damit ich mich nicht mehr so ganz alleine fühle. Ein Stück hilft es, aber diese große Lücke wird keiner ersetzen können. Und das 'little Things' von One Direction gerade läuft, macht es auch nicht besser.

One Direction, die Band die Weltberühmt ist und momentan eine Pause macht. Im Restaurant habe ich mal zwei Mädels belauscht, wie sie sich darüber aufgeregt haben. Sie waren bestimmt erst 14 Jahre alt. Die beiden verstehen nicht, dass die vier jungen Männer auch mal eine Pause brauchen. Es ist anstrengend berühmt zu sein und die Mädels sollen sich überhaupt freuen, dass sie nachdem Zayn ausgestiegen ist, zu viert weiter gemacht haben. Nicht viel habe ich mit ihnen zu tun. Eigentlich so rein gar nichts, nur den Tratsch den man in der Schule mitbekommt, von den ganzen Weiber, die sich vorstellen mit Harry Styles zusammen zukommen. Die Frage, die mich schon immer in meinem Kopf verfolgt: wie können sie diese Promis mögen, wenn sie sie gar nicht kennen gelernt haben, sie nicht mal gesehen haben und nur von der Ferne bei Konzerten, wenn sie sie die Musik, Filme ect. hören und sehen, kennen?
Ich bin nicht besser mit Harry Potter, aber das ist was ganz anderes. Jedenfalls denke ich das. Joanne K. Rowling ist einfach eine fantastische Autorin und man kann sich einfach nur in ihren Büchern verlieben. So wie sich welche in Harry Edward Styles verknallt haben, so habe ich mich in Harry James Potter verknallt.

Vielleicht erscheint es einem langweilig, wenn man nur die Musik lauscht und nichts anderes macht. An nichts denkt, sondern nur die Augen geschlossen hält und mit dem Fuß den Takt des Liedes mit schlägt. Die Melodie bewundert und nicht zu vergessen den Gesang. Alles was ein Lied beinhaltet, ob ein langsamen oder schnelles.
Ob die Beatles oder One Direction.
Ed Sheeran oder Sarah Conner.
Ob Beethoven oder Shawn Mendes.
Klassik oder Rock. Egal welche Musik man mag, im Endeffekt verbindet sie Menschen von überall des Erdballs.

Und auf einmal, was ich seit Wochen und Monate nicht mehr hatte, bekomme ich Heißhunger. So viele Lebensmittel, die ich in die Finger bekomme stelle ich auf den Küchentisch. Ich schmiere mir Butterbrote mit Nutella, mit Wurst und Käse. Das will ich auch alles essen.

Ein Brot nach dem anderen verschlinge ich. Kalorien über Kalorien stopfe ich in mir rein und es fühlt sich gut an. Doch dann wird mir schlecht. Nicht die normale Übelkeit, die man verspürt bei Magendarm. Es ist anders und nicht erklärbar. Ich renne zum Bad, aber schaffe es nicht rechtzeitig über die Toilette. Es bricht auf den fließen aus mir raus. Alles was ich vor wenigen Minuten noch verdrückt habe. Beim zweiten Würgen schaffe ich es diesmal in die Toilette. Meine Fingernägel kralle ich in meine Beine. Mir ist warm und zugleich kalt und trotzdem schwitze ich. Mein Mum wäre jetzt zu mir gekommen und hätte beruhigend auf mich eingeredet. Nicht zu vergessen, dass sie meine Haare gehalten hätte, die ich gerade versuche aus dem Weg zu machen.

Aber es kommt keiner um mir zu helfen und die Gewissheit, dass ich ganz alleine bin, lässt mich nochmals erbrechen. Bulimie, eine Krankheit worüber wir in der Schule oft geredet haben. Und nun hatte ich meine erste Erfahrung damit.

No Reason to LiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt