8. Kapitel

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Mörderin, Mörderin, Mörderin.

Diese Worte schwirren die ganze Zeit in meinem Kopf herum. Und diese Worte sind wahr, was mich wieder ein Stück weiter zerstört. Ich wusste es schon vorher, aber das ein Fremder es gesagt hat, bestätigt es nur noch mehr.

Es sind schon Stunden vergangen, seit ich nach hause gelaufen bin. Ich war kaputt vom Laufen und von Jessica. Von allem und jedem. Wieder einmal zeigt es mir, dass alles bei mir falsch geht. Es war schön mit Michael, auch wenn ich das nicht zugeben will. Der junge Mann scheint nett zu sein, trotzdem wird er mein Vertrauen nicht gewinnen. Ich vertraue niemanden und das wird so bleiben. Reiner Selbstschutz.

Wie auch die letzte Nacht gehe ich auch heute aufs Dach. Diesmal etwas früher. Es hatte immer etwas beruhigendes, was ich jetzt auch brauche. Ich werde mich aber nicht umbringen, heute nicht.

In meiner Hosentasche befindet sich eine Klinge. Es ist eine Woche her, als ich es zum letzten Mal gemacht habe. Mein Körper sehnt sich danach die Klinge auf der Haut zu spüren. Man kann es nicht mit etwas vergleichen oder erklären. Man muss es selbst gespürt haben um es zu verstehen. Keine beste Freundin würde es verstehen. Kein Vater oder Mutter. Keiner außer man selbst.

Ich mache es, um mich zu bestrafen. Darüber hinaus ist es eine Sucht geworden. Einmal die Woche muss ich es machen, sonst werden die Alpträume schlimmer. Die Panikattacken, die Erinnerungen, die Schuldgefühle. Alles wird ein Stück schlimmer.
Ich würde aufhören, will es aber nicht. In dem Moment, wo ich die Klinge ansetzte und drücke, vergesse ich alles. Nur die Klinge und ich sind da. Keine Gefühle, rein gar nichts.

Am Rand des Daches bleibe ich stehe.
Die Sonne ist noch nicht ganz untergangen. Der Himmel leuchtet in rot mit einem gelb Stich. Es ist wunderschön zu zusehen wie der orangene Ball immer tiefer sinkt. In der Ferne schreit ein kleines Kind nach ihrer Mutter. Autos, die mit quitschendem Reifen zu schnell in die Kurve fahren. Fahrradfahrer, die mit Klingeln versuchen auf sich aufmerksam zu machen.

Meine Hände bewegen sich von alleine zu meiner Bluse. Ich betrachte das Farbenspiel weiter, als die Bluse auf den Boden fällt. Mir ist es egal, wenn mich jemand in den letzten Sonnenstrahlen sehen sollte. Demjenigen würde es eh nichts machen, das Einzige, was sie können, ist weggucken.

Die Klinge liegt perfekt in meiner Hand. Meine Augen schließen sich und meine Hand macht die erste Bewegung auf meiner Rippe. Der altbekannte Schmerz, den ich viel zu gut kenne, breitet sich aus.

"Tut mir leid, Schatz", flüster ich.

Der nächste Strich, der nächste Schmerz, die nächste, bleibende Narbe.

"Tut mir leid, Bruderherz"

Deutlich spüre ich Blut an meiner Hand kleben.

"Tut mir leid, Daddy"

Um mich herum ist es ganz leise. Kein Ton ist zu hören.

"Tut mir leid, Mummy"

Noch ein letztes Mal.

"Tut mir leid, dass ich eure Mörderin bin"

Am Ende bricht meine Stimme. Stumpf spüre ich die Schmerzen.

Langsam öffne ich meine Augenlieder. Dunkelheit umgibt mich. Die Sonne ist nun ganz verschwunden. Die Sterne sind aufgewacht und die Sonne ist schlafen gegangen.

"Ich hasse mein Leben", schreie ich so laut wie es geht. Meine Stimmbänder tun dabei weh.

Dieser Satz musste einfach raus.

"Ich auch", schreit jemand zurück.

Mir kommt die Stimme bekannt vor, was mich etwas beunruhigt.
Doch denke ich nicht weiter darüber nach. Ich will wirklich ins Bett, einfach nur schlafen. Und dann wirklich schlafen und nicht meine Wand angaffen. Eine Nacht mal wieder durchschlafen.

Seufzend gehe ich die Feuerleiter runter. Die Bluse um meine Mitte geschnürt, sodass es auf der Wunde ist. Es brennt wie Feuer.

In meiner kleinen Wohnung ziehe ich mich komplett aus und mache im Badezimmer die Dusche an. Nicht sehr schlau, aber morgen werde ich wohl eher nicht in der Lage sein. Morgen werde ich nicht viel machen, außer zum Grab zu gehen. Mal gucken was danach noch alles passieren wird.

Als das Wasser eine angenehme Wärme hat, steige ich in die Duschkabine.

Ich ziehe laut die Luft ein. Am liebsten würde ich einfach wieder rausspringen. Stay strong! Der altbekannte Spruch von mir, den ich mir immer gesagt habe, als zum Beispiel Jessica mich gemobbt hat.

Bleib stark und zeige keine Schwäche. Zeige niemanden, wie sehr es dir weh tut.

Immer habe ich mich daran erinnert, als ich mit Tränen in den Augen weggegangen bin. Und immer hat es mir geholfen, wie auch jetzt. Mein Körper richtet sich wie von alleine auf. Genießt das Wasser, was prasselnd darauf fließt.

Ich seife meinen dünnen Körper, wie immer mit ein und demselben Shampoo, ein. Es gefällt David sehr und deswegen wechsel ich es nicht. Es riecht nach einer Blume, die ich nicht definieren kann. Als Schaum an den Rippen runterläuft, muss ich mich an der Wand abstützen  Stay strong, stay strong, gleich ist es vorbei. Doch weiß ich, dass es nicht vorbei gehen wird. Immer werde ich Schmerzen in mir tragen, ob äußere oder innere, das spielt keine Rolle.

Ich dachte, ich könnte heute mal schlafen. Oder besser gesagt habe ich es gehofft. Mir wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht. Wach liege ich im Bett, starre meine Decke an und bin genervt von der Lampe, die immer noch flackert. Ich will schlafen verdammt nochmal!
Schlafen, bis ich ausgeschlafen bin. Das letzten Mal, dass ich ausgeschlafen war, war am Sonntag bevor es passierte. Montag war ich zu aufgeregt und Dienstag musste ich früh aufstehen. Mittwoch war ich gelähmt, neben dem Bett meines Bruders. Donnerstag wurde ich schreiend wach.
Die nächsten Tage wurden nicht besser. Danach Wochen, Monate und jetzt ein Jahr. Die Uhr schlägt 12 Uhr.
Sie sind noch nicht ganz ein Jahr tot, aber bald. Ich drehe mich auf die Seite, damit ich die Uhr nicht mehr ansehen muss. Die mich erinnert, das Steve und ich Geburtstag haben.

Leise summe ich eine Melodie, die in meinen Kopf herumschwirrt. Sie kommt mir sehr bekannt vor, aber zuordnen kann ich sie nicht. Es ist ein Lied, was ich früher oft gehört habe. Mir fällt der Name des Liedes nicht ein. Es ist ein langsames und schönes Lied, mit einem sinnvollen Text. Ein männlicher Sänger singt es. Und plötzlich fällt mir der Name ein.
A little to much von Shawn Mendes.

Keine Ahnung warum es mir genau jetzt einfällt, aber es hilft mir träger zu werden. Meine Augenlieder werden schwerer und schwerer, bis sie ganz zu fallen. Seit einem Jahr wache ich nicht wegen einen Alptraum auf, sondern schlafe durch. Trotzdem bin ich müde, als ich auf wache.

No Reason to LiveWhere stories live. Discover now