The last call - no. 9

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Ich schaute auf Jenny's Telefon, das an ihrem Ohr hing. Sie kitzelte mit einem Stift etwas auf ein Blatt, malte herum.
Ihr Gesprächspartner schien sie nicht sonderlich zu interessieren oder zu unterhalten.

"Es ist für dich."

"Für mich?", fragte ich sie zögerlich. Ich dachte für einen Moment lang, sie würde den kleinen Zettel meinen, auf dem sie malte, doch eigentlich meinte sie das Telefon an ihrem Ohr. "Wer ist dran?", fragte ich sie dann, als ich es realisierte.

"Du darfst gerne raten, aber ich bin mir sicher, dass du die Antwort bereits weißt."

Wir bekamen eigenartige Blicke von unseren Kollegen, die eigentlich eigene Arbeit zu tun hatten. Sie sagten nichts, sondern beobachteten uns nur aus einem Augenwinkel, wie Jenny und ich unsere Plätze tauschten. Wie ich ihr Telefon nahm und es an mein Ohr hielt.

Jenny beobachtete mich über den Computerbildschirm hinweg. Sie beäugte jede Mimik und Gestik von mir, als würde sie darauf hoffen, dass ich mich durch irgendwas auffällig machte.

"T", sagte ich einfach in den Hörer, ohne weiter drüber nachzudenken. "Was ist es diesmal?"

"Keine Namen, nur eine Tat, die du der Polizei melden kannst, damit die Leiche nicht verrottet und zu faulen beginnt.", sagte seine vertraute Stimme viel zu grausam.

Ich konnte ihm nicht böse sein. Alles schien blockiert zu sein, seitdem er mir seine anderen Seiten gezeigt hatte. Mein Hass auf ihn war nicht mehr wirklich ein Hass, meine Trauer um die verstorbenen Menschen nur noch stumpfe Trauer, da er sagte, sie hätten es verdient gehabt. Ich konnte nichts mehr wirklich wahrnehmen, was für mich verwirrend war. Ich konnte ihn nicht hassen, obwohl ich es zu oft wollte. Ich konnte es nicht.

"Was hast du getan?"

"Keine Sorge, die Familie hat es verdient."

"Familie?"

Alles drehte sich. Ich kam mir so vor, als hätte man mich auf Jenny's Drehstuhl 100 Mal in eine Richtung gedreht.

"Ein Mädchen im Teenager-Alter, ein kleiner Junge und beide Elternteile."

"Was hast du ihnen angetan?"

"Wirst du mich deshalb hassen?"

Ich schwieg.

"Lu, wirst du mich hassen, wenn ich es dir sage?"

Und dann brachte ich mich dazu, ihm "Nein" zu sagen.

"Versprochen?"

Ich schnaufte kurz durch.
"Versprochen"

"Zerstückelt"

Und bei dem Gedanken fühlte ich mich so, als würde ich gleich brechen müssen. Ich musste es nicht. Ich hätte meinen Kopf auch einfach ausschalten und nicht weiter drüber grübeln können, aber ich tat es nicht.

"Schick sie zur Ackerstraße 145, okay?"

Ich benachrichtigte niemanden.
Sah nur leer zu dem Fenster, das Hinter Jenny war.

"Lucy?"

Wieder sagte ich nichts.

"Hallo?", hörte ich ihn noch sagen. Hörte meinen Chef hinter mir her laufen.

Ich konnte es nicht mehr.
Ich konnte nicht mehr mit anhören, wie der Mann, der bei mir lebte, Menschen umbrachte.
Ich konnte mich nicht mehr von ihm fern halten, so gern ich es auch wollte. Wenn ich bei ihm war, dann war alles anders. Dann war er anders.
Ich konnte mich nicht mehr wie eine Betrügerin fühlen.
Ich konnte Jenny nicht auf ewig anlügen.
Ich konnte Sam nicht auch noch anlügen.
Ich konnte erst recht Gary nicht anlügen. Ich konnte doch keinen Polizisten belügen.

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