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Ginny

Das Licht der späten Nachmittagssonne fiel durch die verstaubten Fensterscheiben ihres kleinen Hauses, welches sich in einem der Vororte von London befand. Staubkörner tanzten munter im goldenen Sonnenlicht, von draußen war leises Vogelgezwitscher zu hören. Müde strich sie sich eine Strähne ihres feuerroten Haares aus dem Gesicht, welches sie zu einem geflochtenem Zopf gebunden und auf ihren Rücken verbannt hatte. Der Stuhl, auf dem sie saß, knarzte leise.

Ihre Hand zitterte ein wenig, und jede Bewegung fühlte sich wie ein Marathonlauf an. Als sie am Morgen einen Blick in den Spiegel geworfen hatte, waren ihre Augen blutunterlaufen und ihr Gesicht so blass und gelblich wie noch nie gewesen. Seit Tagen hatte sie nicht mehr richtig geschlafen und gegessen. Zwischendurch war sie kurz eingenickt, nur um ein paar Minuten später erschrocken hoch zu fahren. Und vor lauter Übelkeit hatte sie keinen einzigen Bissen herunter bekommen.

Ginny hatte sich frei genommen im Ministerium und einen Virusinfekt als Ausrede genommen, den man besser auskurierte anstatt ihn zu bekämpfen. Sie wollte um jeden Preis vermeiden, Harry wiederzusehen. Sie fürchtete sich vor seinen Augen. Vor seinen wunderschönen, verletzlichen Augen.

Sie hatte seinen Blick gesehen, als sie sich getrennt hatten. Oder besser gesagt, als er sich getrennt hatte. Dieser verletzte Blick. Sie hatte sich nicht mal selbst im Spiegel in die Augen schauen können, so sehr schämte sie sich. Eine Träne lief ihr über die Wange, doch sie hatte keine Kraft mehr, zu weinen. Die hatte sie in der letzten Woche schon aufgebraucht. Seitdem hatte sie niemanden mehr gesehen. Sie mochte die Einsamkeit, die Stille, die Ruhe. Nur ab und zu hatte der Motor eines Muggel-Autos die vollkommene Ruhe gestört, sonst war tagsüber stets das fröhliche Vogelgezwitscher und das beruhigende Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume zu vernehmen.

Ginny schloss die Augen und blendete mühsam das Bild von Harrys verstörtem Blick aus. Sie konzentrierte sich einzig und allein auf ihren Atem, der ruhig und gleichmäßig ging.

Sie hatte kein Recht dazu, zu trauern. Harry sollte trauern. Sie hatte ihn betrogen, nicht er sie. In diesem Moment wünschte sie sich sehnlichst einen Zeitumkehrer herbei, auf dessen Reise sie nie diesen One-Night-Stand gehabt hätte. Gott, sie hatte sich dem Druck entziehen wollen. Ein neues Gesicht zu sehen, eine fremde Stimme zu hören, einen ungewohnten Körper zu erkunden - das war wunderbar gewesen. Es hatte ihr ein Stück ihres Lebens zurück gegeben, auch wenn diese Nacht an sich bedeutungslos gewesen war. Es war ihr um ihr Leben gegangen. Sie hatte sich so leer, so emotionslos, so alt, so verstaubt gefühlt. Immer der gleiche Trott, immer der gleiche Tagesablauf. Die Bemerkungen ihrer Eltern, die auf eine Hochzeit und Enkelkinder hofften. Die Presse, die über die Kriegshelden berichtete.

Sie konnte einfach nicht mehr. Sie war ausgebrannt, leer, kraftlos. Es ging nicht mehr, sie wollte nicht mehr.

Hochzeit. Kinder.

Das wäre nicht richtig gewesen. Das hätte mit Harry und ihr nicht funktioniert. Allein ihr Egoismus zeigte, wie ungesund die Beziehung geworden wäre. Was Harry und sie hatten, war Vergangenheit. Damals waren sie unsterblich ineinander verliebt gewesen und hatten Seite an Seite gegen das Böse gekämpft. Heute waren sie älter und klüger und wussten, dass sie die Vergangenheit auf die Gegenwart übertrugen und dass das auf Dauer nicht funktionieren würde. Heute gab es außer der Vergangenheit nichts mehr, was sie miteinander verband. Nichts. Und das war falsch.

*
Hermine

,,Und? Welche Argumente hast du gefunden?" Sie saß Harry gespannt gegenüber, während der sich räusperte. ,,Nun, ich habe Folgende: Ginny und ich teilen nur die Vergangenheit miteinander, wir standen unter zu hohem Druck und unsere Liebe ist vielleicht über die Jahre hinweg verblasst."

Zufall mit HindernissenWhere stories live. Discover now