Die dreißigste Nacht

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Die dreißigste Nacht

Ich will gerade aufs Gaspedal drücken, da springt Begüm vor den Wagen. Sie streckt beide Arme aus ich reiße vor Schreck die Augen auf. Ich hätte sie überfahren können.

Begüm hält mir meine Schuhe hin und bringt mich dazu, mich auf den Beifahrersitz niederzulassen.
  »So kannst du nicht fahren«, meint sie und als ich die Autotür schließen will, hält mich meine Mutter ab.

Sie schüttelt heftig den Kopf. »Nur über meine Leiche gehst du mit der. Nur über meine Leiche gehst du mit dem.«
Ihre Augen sind so rot vom Weinen und ihre Finger zittern. »Ich lasse dich niemals freiwillig zu deinem Ende fahren.«

»Anne (Mutter), ich muss«, bringe ich schwer hervor. Ich kann mich nicht erklären und ich will es auch gar nicht.
  »Ich werde sie sicher zurückbringen«, verspricht Begüm.
  »Rede du erst gar nicht!«, schreit meine Mutter. »Du bist die Ursache von allem!«

»Anne, lütfen (Mutter, bitte)«, wispere ich. »Ich muss zu ihm. Ich muss sehen, ob es ihm gut geht, sonst sterbe ich.«
  Ihre Augen weiten sich. Das ist zu viel für sie. Diese bloße Information über mich hat sie lahmgelegt. Sie wird sich niemals vorstellen können, wie schwer daneben meine Gefühle sind, die ich seitdem in meiner Brust verstecke.

Sie lässt die Tür los und ich schließe sie. Begüm startet den Wagen, bevor sich meine Mutter umentscheiden kann.

Sie denken beide dasselbe- das ich verstört bin- und das ist mir vollkommen egal. Das ist alles nicht mehr wichtig. Er könnte sterben. Sterben könnte er. Nicht mehr da sein. Wieso machte mir dieser Gedanke solche Angst, wenn ich ihn sowieso nie mehr wiedersehen möchte?

Ich lege die Füße auf den Sitz ab und umschlinge meine Beine mit den Armen, wippe vor und zurück.
  »Schnall dich bitte an«, sagt Begüm, während sie immer schneller fährt.
   Ich sehe, wie etwas von draußen blitzt. Dass gerade jetzt ein Blitzgerät mich erwischen musste. Nasuh wurde auch geblitzt.

»Wer war das?«, frage ich sie mit zitternder Stimme. Ich ziehe den Mund unangenehm auseinander. Gleich verlässt mich die Kraft und ich verliere die Kontrolle, denke ich. »Wieso hat man das getan?«

Ich sehe vom Augenwinkel, wie sie die Brauen zusammenzieht. »Ich glaube, es waren Toygars Männer. Durch das Massaker wurde das Versteck gefunden und dadurch viele andere Männer auch gefasst. Einer von denen muss es gewesen sein. Er hat sich selbst ins Bein geschossen.«

Ich schüttele den Kopf. »Ihm ist der Tod egal. Nach der Sache ist ihm alles egal.«

Ich erinnere mich noch gut ab seine Worte: Es ist mir egal, was danach passiert. Meinetwegen kannst du die Person sein, die mir danach in den Kopf schießt.

Wir kommen am Krankenhaus an und ich sprinte aus dem Wagen. Begüm hastet mir nach, kann mich erst erreichen, als ich an der Information warte. Sie sagen mir, wo die Intensivstation liegt und ich renne dorthin, als könne mein Dasein sein Leben retten.

Meine Lunge brennt und ein Stechen macht sich an meiner Seite breit. Ich atme hektisch ein und biege ab. Meine Sicht verschwimmt langsam, ich kann die Tränen nicht mehr aufhalten, meine Augen brennen viel zu sehr.

»Derin, warte!«, höre ich von hinten, aber warten kann ich nicht. Meine Beine schreien danach, meine Muskeln wollen Rast, mein Herz ist das einzige, was trotz der Anstrengung schreit, dass ich rennen soll.

Nur diese eine NachtWhere stories live. Discover now