Die vierzehnte Nacht

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Die vierzehnte Nacht

Ich sehe aus dem Fenster, wie der Tag anbricht. Meine Augen sind erschöpft und dennoch kriege ich es nicht hin einzuschlafen.

Nasuh ist unnahbar. Es fühlt sich an, wie an dem Tag, nachdem ich die erste Nacht bei ihm verbracht habe, nur dass er mich ja nicht ansieht. Damals hatte er mich angestarrt, als müsse der Weg zu diesem Mörder in meinen Augen stehen.

»Woher weißt du so genau, wo dieser Mann ist?«, frage ich und er ignoriert mich. Ich drücke die Zähne fest zusammen. Er hat eine Sporttasche mit einigen Klamotten gefüllt und macht sie zu. Dann kommt er zu mir und öffnet die Salbe, die ich auf die Schwellungen tun soll.

Sein Schweigen ist bedrückender als diese Allergie. Es sorgt dafür, dass die Fesseln fester und der Sauerstoff knapper zu sein scheint.

Nasuh streicht mir die Salbe großzügig auf die Arme und ich habe das Gefühl, kleine Stromschläge folgen seinen Berührungen. Dieses Gefühl ist mir so fremd, dass ich es nicht wahrhaben will. Ich kann es mir nicht erklären und das stört mich. Wie mich alles an meiner Situation stört.

Dann blickt er mich heute zum ersten Mal an und sein Blick ist erschöpft. Er drückt noch mehr Salbe in seine Hand und sieht mich einen Augenblick stumm an, bis er sie über mein Gesicht streicht.

»Ist es sehr schlimm?«, frage ich. »So fühlt es sich nämlich an.«
  Ich denke kurz, dass er schmunzeln will, aber das tut er nicht. Seine Stimme ist noch immer abweisend. »Es ist besser als gestern.«

Genauso, wie er danach zu schweigen beginnt, wird auch sein Blick kalter. Er hebt mich hoch und ich habe das Gefühl, in seinen Armen zu verschwinden.

Es ist noch nicht hell genug, dass uns jemand erkennen würde. Die Straße ist leer und dunkel. So etwa fühle ich mich gerade. Ich fühle mich machtlos und ausgeliefert, als er mich auf den Beifahrersitz fallen lässt und gleichzeitig wüsste ich nicht, wohin mit mir, wenn er mir jetzt die Fesseln abnehmen und gehen lassen würde.

Nasuh steigt keine Minute später ein und startet den Wagen. Ich sehe aus dem Fenster, wie wir immer weiter das kleine Haus, in dem wir waren, verlassen.

Ich versuche zu schlafen, aber das will mir noch immer nicht gelingen. Ich frage mich, wie es dazu kam, dass er nicht getötet wurde. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, habe ich Bilder im Kopf.

»Wie lange werden wir fahren?«, richte ich mich auf.
  »Eine ganze Weile«, antwortet er wieder ungenau. »Ist der Juckreiz weg?«

Er ist nicht wütend auf mich. Er ist wütend auf sich selbst, weil er mir zu viel verraten hat. Das merke ich erst jetzt.

»Nicht ganz«, antworte ich und sehe auf meine geröteten Arme. »Aber keine Sorge, das wird schon.«

Er nickt stumm und konzentriert sich weiter auf den Verkehr, während ich zumindest etwas Schlaf bekomme. Als ich aufwache, steht der Wagen am Wegrand geparkt.

Kaum habe ich die Situation erfasst, sehe ich Nasuh schon hierherkommen. Er lehnt sich gegen den Wagen und holt einen Zettel aus seiner Hosentasche. Es ist eine Liste mit Adressen. Woher er die wohl hat?

Nachdem er eine von den Adressen durchstreicht und dann eine Weile genervt in den Himmel schaut, lässt sich auf den Platz fallen und sieht mich intensiv an. »Dein Gesicht sieht besser aus.«

Nur diese eine NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt