Die elfte Nacht

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Die elfte Nacht

»Was ist das? Das brennt wie Feuer«, kreische ich und versuche meine Arme zu kratzen. Nasuh hat mir die Arme hochgekrempelt und die Sicht auf größere rote Flecken ist nicht gerade appetitlich. Das fürchterliche Jucken brennt auf meiner Haut und wird immer schlimmer.

»Verdammt, woher soll ich das wissen?«, brüllt Nasuh und fährt sich durch das Haar. »Bist du allergisch gegen irgendetwas?«
  »Das schwillt immer mehr an«, heule ich und ertrage das alles langsam nicht mehr. »Mach diese Fesseln ab!«

»Du solltest sowieso nicht an den Ausschlag rangehen, also sind die Fesseln gut«, behauptet er und versucht, nicht hysterisch zu werden.

Ich will, dass er mir die Arme abhackt. Es juckt nicht einfach, es breitet sich ein unangenehmes Gefühl aus, das mich quält. Ich will das nicht mehr fühlen.

Dann fällt es mir ein wie ein Geistesblitz. Wieso habe ich nicht darauf geachtet? Wieso ist mir das nicht früher eingefallen?

»Ich bin allergisch gegen Efeu«, nuschele ich und beiße mir auf die Lippe. »Ich muss gestern daran gekommen sein.«

»Wieso passt du nicht auf, wenn du das weißt?«, schreit er mich an.
  »Dein Brüllen macht es jetzt auch nicht besser!«

Ich bin hier am verrecken und alles, was er tut, ist schreien. Kann er nicht einfach meine Arme abreißen, statt zu brüllen? Meine Augen fangen an zu tränen und ich habe das Gefühl, sie jucken auch. Ich atme unregelmäßig und will nur noch losheulen.

  Nasuh atmat genervt aus. »Ich hätte abdrücken sollen.«
  »Hättest du!«

Er spannt den Kiefer an. »Okay, lass uns uns erst einmal beruhigen. Weißt du, was man dagegen tut? Was beruhigt die Schwellung?«
  »Keine Ahnung.«
Die Tränen lassen meine Sicht verschwimmen.

»Sieh doch im Internet nach«, meine ich dann und drücke die Zähne zusammen. Ich will meine Arme mit irgendetwas zerkratzten, aber Nasuh bemerkt das und hält mich an den Handgelenken fest. Er schüttelt den Kopf. »Dort kann jeder Idiot etwas reinschreiben. Am Ende machen wir es schlimmer.«

Ich wimmere, ziehe meinen Mund auseinander und eine Träne rollt meine Wange entlang.

»Okay, wir finden schon etwas. Ich frage gleich in einer Apotheke nach. Die müssen doch etwas wissen«, findet er. »Ich werde deine Arme loslassen, aber du wirst nicht kratzen oder sie gegen etwas schlagen.«
  Ich nicke nur und sehe zu, wie er aussteigt. Dass er mir nicht einmal in einer solchen Situation die Fesseln nehme kann. Unfassbar dieser Mann.

Ich versuche nicht an das Jucken zu denken, aber es wird immer intensiver und ich habe keine Ablenkmöglichkeit. Schmerz wäre mir da lieber.

Mir doch egal, was Nasuh sagt.
Ich nehme beide Arme hoch und schlage gegen das Armaturenbrett, als würde mir das irgendetwas bringen. Nichts zu tun, macht mich so sehr verrückt, dass mir alles andere lieber ist.

Mein Blick huscht auf die Ablage, die man runterdrücken kann. Die ist mir vorher nie eingefallen. Ich öffne sie und habe den Drang, damit meine Arme so fest zu kratzen, dass sie blutüberströmt sind.

Gerade bin ich so fasziniert von der Idee, da erblicke ich ein Foto in der Ablage. Es ist ein Familienfoto.
Mutter, Vater, zwei Söhne.
Die Mutter ist bedeckt und hat ein breites Strahlen. Der Vater hat den Arm um sie gelegt. Er sieht Nasuh ziemlich ähnlich. Ich rate mal, dass er der ältere Sohn ist, da der jüngere ein blonder Junge mit hellbraunen Augen ist.

Wie klein Nasuh einmal war und wie süß. Man möchte ihm in die Wangen kneifen.
Was wohl mit seiner Familie ist? Ob sie tot ist? Ob man sie getötet hat?
Das würde Sinn ergeben und das wäre ein Grund für Rache. Morden ist nicht richtig. Aber manchmal- da kann man den Drang verstehen.

Ich sehe mir den jüngsten an. Er hat wohl gerade einen Zahn verloren, denn er präsentiert stolz seine weißen Zähne mit einer kleinen Lücke.

Lara fällt mir ein.
Wenn sie Lara töten, dann würden sie es auch mit ihm tun. Vielleicht tragen wir mehr gemeinsames Leid, als wir uns vorstellen. Eine Träne landet auf dem Bild.

Ich erinnere mich noch, wo Lara ihren ersten Zahn verloren hat. Sie war noch so klein und hatte ihren einen Zahn ständig gewackelt, weil ihre Freundin einen ab hatte und sie wollte das auch.

Am Ende hatte sie ihn so oft gewackelt, dass er locker wurde und sie ihn an eine Schnur gebunden hat, die sie an die Türklinke geknotet hat. An dem Tag hat die viel geweint und war doch glücklich.

Ich höre, wie Nasuh die Tür öffnet und krache die Ablage zu. Er bemerkt komischerweise nichts, ist wohl zu sehr beschäftigt mit der Tüte, die er in der Hand hält.

Er steigt ein und sieht sich meine Arme an. »Gut gemacht«, lobt er mich wie ein kleines Kind gelobt wird und weiß gar nicht, das ich gerade noch beide zerkratzen wollte.
  »Es sieht nicht gerade besser aus«, presse ich hervor. »Und besser fühlen tut es auch nicht.«

Er verdreht die Augen und sieht sich den Ausschlag an. »Sie meinten, ich solle lieber zu einem Arzt, aber ich habe ihnen sicher gemacht, dass es nicht geht.«
Hat er sie bedroht? Die Pistole gezeigt? Kriegt man diese Allergiemittel ohne Verschreibung?
  »Sie meinten, bei falscher Anwendung kann der Ausschlag feucht werden, verkrusten, darauf Blasen bilden oder eitern.«

Ich sehe ihn fassungslos an. »Wieso verdammt erzählst du mir das? Ich will zu einem Arzt.«
Ich traue mich, laut zu sein.
  »Damit du endlich still bleibst und mir zuhörst«, antwortet er gereizt und deutet auf die Tüte, die er auf das Armaturenbrett gelegt hat. »Das wird dir helfen.«

»Ich hoffe«, zische ich und kann das Jucken kaum mehr aushalten. Er holt ein Tuch heraus und wahrscheinlich Desinfektionsmittel. Das Zeug brennt auf der Haut und sticht in die Nase.

»Halt still!«, ruft er. »Du kriegst gleich eine gescheuert.«
Ich ziehe die Mundwinkel nach unten und kann die Arme nicht ruhig halten.
  »Derin«, nennt er meinen Namen und das bringt mich so aus der Fassung, dass ich kurz still bleibe und ihn ansehe. Er legt die Hand an mein Gesicht und zieht die Brauen besorgt zusammen. »Wir kriegen das wieder hin, okay?«

Ich nicke und er holt eine Salbe heraus, die er großzügig auf die roten Stellen verteilt. Widert er sich nicht? Der Ausschlag ist auf meinem Körper und es ekelt mich an. Wie kann er nicht einmal die Mimik ändern?
Und wieso schlägt mein Herz so hoch? Ist das auch eine Nebenwirkung der Allergie?

Die Salbe ist kühl und tut für den Moment gut. Ich atme hörbar aus und drücke mich gegen den Sitz, nachdem er fertig ist

»Ich hab noch Schlaftabletten«, meint er und deutet wieder auf die Tüte, die er vorhin reingebracht hat. »Falls es zu schlimm ist und du dich nicht weiter quälen willst.«

Ich überlege, aber als meine Arme wieder warm werden und der Juckreiz wieder schlimmer, will ich nur noch in den Schlaf fallen.

Deshalb nehme ich die Tabletten und bete, dass es endlich aufhört.

Nur diese eine NachtWhere stories live. Discover now