Die achte Nacht

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Die achte Nacht

»Wie lange bin ich schon hier?«, frage ich, weil ich das Zeitgefühl verloren habe und starre meine Fesseln an. Wenn ich nicht wie paralysiert gewesen wäre, hätte ich dann eine Chance gehabt zu fliehen? Ich denke nicht- und dennoch bin ich sauer auf mich.

»Zwei Nächte«, antwortet er. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Es waren Nächte, keine Tage. »Wir müssen gehen. Deshalb habe ich dich geweckt.«
»Gehen? Wohin?«, frage ich. Ich habe das Gefühl, diese Reise hat kein Ende.

»Weg«, antwortet er, was gar keine Info ist. »Und alles, was du tun musst, ist dich daran zu erinnern, dass ich eine Pistole habe.«
»Wenn ich schreie, erschießt du mich«, schließe ich daraus. Wie kann ich das so gelassen aussprechen?

»Genau«, nickt er. Ich kann das alles nicht fassen, gar nichts. Obwohl ich alles am eigenen Leib gespürt habe, all den Schmerz und die Verluste- sie scheinen nicht real zu sein. Ist das meine Psyche die mich versucht durch Verdrängung zu schützen?

Ist nichts zu fühlen besser als Angst zu fühlen? Ist die Leere in mir besser als Schmerz?

»Wenn du mich vor Menschen erschießt oder überhaupt jemand darauf aufmerksam wird, was wird dann aus deiner Rache?«, frage ich.
Rache. Rache. Rache. Rache. Das ist beinahe alles, was ich weiß. Er will Rache. Ich bin hier wegen einer dummen Rache.

»Ich könnte dich auch im Kofferraum mitnehmen und über deine Lippen einen fetten Streifen Klebeband anbringen«, schlägt er vor.

Ich seufze laut. »Ich werde dich nicht verraten. Du hast mir das Leben gerettet.«
»Du solltest deine Dankbarkeit zeigen, indem du still bist und mir folgst«, erwidert er.

Seine Art verwirrt mich. Die Worte sind nicht tadelnd. Die Weise, wie er mit mir umgeht, hat nichts mit dem Mann zutun, der damals zig Menschen umgebracht hat. So stelle ich mir einen Mörder nicht vor. Aber was weiß ich schon. In meinen Gedanken ist meine Schwester noch am Leben und Fatima geht es gut. Ich kriege nicht in den Kopf, dass sie tot ist. Es passt nicht.

»Vielleicht lässt du mich einfach hier eingesperrt, bis du deine Rache hast und lässt mich dann gehen«, meine ich und weiß gar nicht, wieso ich überhaupt verhandle. Wie kann ich so leicht über meine eigene Entführung reden? Haben mir Toygars Männer die letzten Hirnzellen weggeprügelt?
»Wenn ich sterbe, würdest du hier drin langsam vergammeln«, entgegnet er mit Nachdruck. »Also hör auf, zu reden.«

Er sieht mich einen Augenblick still an und das ist ziemlich unangenehm. »Ich habe eine bessere Idee.«
Kurz danach ist er bei mir und hebt mich hoch. Ich reiße die Augen weit auf, als ich in seinen Armen liege und er mich rausträgt. Sein Griff ist stark, sodass keine Sorge besteht, dass ich fallen könnte. Aber es ist nicht so stark, dass es wehtut.

Der Wagen ist nicht weit von hier. Sein Zustand ist auch nicht gerade der beste, aber das ist wohl nebensächlich.

Nasuh setzt mich auf den Beifahrersitz und schnallt mich an. Ich hätte mit dem Kofferraum gerechnet, aber das erspart er mir gütigerweise. Es dauert nicht lange, da lässt er sich auf den Fahrersitz fallen. »Ich weiß gar nicht, wieso ich dich am Leben gelassen habe. Ich hätte mir eine Menge erspart, wenn ich einfach abgedrückt hätte.«

»Mir auch«, sage ich und wir sind still. Die Aussage ist ziemlich dumm. Er könnte meinen, mir einen Gefallen zu tun und mir das Leben nehmen. Stattdessen startet er still den Wagen und fährt los.

Nur diese eine NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt