Die zweiundzanzigste Nacht

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Die zweiundzwanzigste Nacht

Es muss von draußen wirklich komisch aussehen, wie ich versuche Laute von mir zu geben und letztendlich meinen Kopf gegen die Scheibe schlage. Mein Körper sorgt dafür, dass ich nicht fest gegen das Fenster knalle, aber ich würde das so gerne tun. Selbst wenn dann meine Stirn ziemlich verletzt wäre, würde es auf eine Weise Aufmerksamkeit erregen.

Aber ich brauche nicht so weit zu gehen, denn die Frau bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich kann nicht sagen, wie gut ihre Augen sind, aber das Tuch um meinen Mund muss sie doch bemerkt haben. Sie geht zurück und mein Herz schlägt noch fester gegen die Brust. Will sie jetzt tatsächlich weg? Wie kann sie mich hier lassen?

Mit aller Kraft versuche ich die Schulter gegen das Fenster zu schlagen, aber komme nicht so hoch. Die Frau bleibt stehen und macht einige Schritte zu mir. Dann greift sie nach ihrem Handy und wählt eine Nummer. Mein Herz macht einen Satz. Die Polizei.

Vielleicht werde ich meine Eltern sehen. Sie werden mich sehr vermisst haben. Eine Tochter zu verlieren ist besser als zwei. Wie dumm und egoistisch von mir zu denken, sie nie wiederzusehen. Es würde sie fertig machen. Es würde sie umbringen, nicht zu wissen, was mit mir ist. Sie könnten niemals abschließen.

Ich fühle mich, wie aus einer Trance erwacht. Der Trance von Nasuhs Worten und seiner Anwesenheit- des Gefühls, das er mir gab. Das alles ist falsch.

Ich versuche meine Ellbogen zu heben und gegen das Fenster zu schlagen. Die Frau fixiert mich, dann sieht sie sich um, während sie telefoniert und verschwindet letztendlich.

Ich will nicht, dass sie geht, schlage weiter gegen das Fenster, als die Fahrertür geöffnet wird.

»Was tust du da?«, fragt mich Nasuh und seufzt dann genervt. »Es wird nicht mehr lange dauern.«
Ich habe keine andere Wahl als zu schweigen.

Also protestiere ich nicht mehr, lehne den Kopf an und schließe die Augen um zu schlafen. Nur kann ich das nicht. Ich denke dauernd an die Frau und ob sie die Polizei benachrichtigt hat. Ob sie das Autokennzeichen lesen konnte?

Die Stille zwischen uns ist gut. Ich bin ihm sogar dankbar, dass er mir den Mund zugebunden hat, denn ich würde es nicht schaffen, nicht zu reden. Vor allem weil mich alles erdrückt. Wenn ich nicht rede, tut er es auch nicht. Zumindest nicht, wenn es nicht sein muss.

»Hast du Hunger?«
Ich schüttele den Kopf.
»Durst?«
Ich wiederhole mich.
»Toilette?«
Wieder schüttele ich den Kopf.
»Ich vermisse deine Stimme.«
Ich mache eine abwertende Mimik und er lacht einfach nur. Vielleicht macht er alles absichtlich. Vielleicht weiß er, was er mit mir anstellt und nutzt es aus.

Aber was stellt er denn mit mir an? Was ist es, was ich fühle? Ich versuche diese Gedanken zu verdrängen, denn die Antwort gefällt mir nicht. Ich kann ihn nicht mögen, ich kann nicht mehr als das, das ist nicht möglich. Es wäre krank, wenn mein Herz für ihn schlagen würde. Ich müsste mich selbst einweisen.

»Verdammt«, höre ich ihn irgendwann fluchen und eine scharfe Kurve abbiegen. »Woher kommen diese Bullen?«
  Ich kann ein Lachen nicht abhalten- oder was immer ich auch hervorbringe- mit dem Tuch um meinen Mund ist ein richtiges Lachen nicht möglich.

Er biegt wieder scharf ab und gibt Gas. Ich sehe das Blitzen. Aber bevor er Strafe zahlen soll, wird er sicher im Knast landen.

Nasuh hinter Gittern. Der Gedanke gefällt mir nicht. Aber Nasuh mit einer Pistole Menschen umbringen zu sehen gefällt mir auch nicht.

»Siehst du«, meint er. »Mit den Fesseln siehst du aus wie eine Entführte. Niemand würde dich verdächtigen.«
Es gibt auch nichts, das ich getan habe.

Ich schaue nach hinten, während Nasuh den Polizeiwagen abgehängt zu haben scheint. War das alles? War das wirklich alles? Wie kann das alles sein?

»Nur noch zwei-«, meint Nasuh stolz auf sich. »Nur noch zwei Verstecke gibt es, die er haben könnte.«
  Vielleicht sollte ich das Lenkrad greifen und dafür sorgen, dass wir einen Unfall bauen. Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass wir beide ins Krankenhaus landen. Er danach uns Gefängnis und ich zur Freiheit.
Oder wir sterben beide.

Ich höre wieder kurz die Polizeisirenen, dann biegen wir ab und ich bekomme Hoffnungen.

Nasuh versucht sich nicht einmal mehr zu verstecken. Er könnte den Wagen liegen lassen und versuchen zu fliehen. Ich weiß nicht, was für Möglichkeiten er hätte oder ob seine Chancen groß wären, aber wenn die Frau von letzter Nacht uns gesehen hat und die Polizei eingeschaltet hat, dann muss sie sich doch sicher das Nummernschild vom Wagen angesehen haben. Sie muss.

»Sind die hinter uns her?«, fragt Nasuh eher sich selbst. Na ja, was bringt es, wenn er mich fragt? Mit dem Teil im Mund kann ich sowieso nicht reden.

»So nah am Ziel«, stößt er dann hervor und gibt Gas. »So kurz davor.«
  Er fährt wieder viel zu schnell. So sehr, dass ich Panik bekomme.

Wir kommen wieder an einem Ort an, das ich eher ein Versteck nennen würde, als die Straße vom letzten Mal. Es ist eine Art Gasse, auf der zwar einige viele Gebäude stehen, es jedoch so still und leer auf dem Platz ist, dass es unbewohnt scheint.

»Warte im Wagen«, meint er. Soll das ein Witz sein?

»Vielleicht sollte ich das Nummernschild mit dem von einem anderen tauschen«, denkt er nach, bevor er aussteigt. »Aber dann würde man doch wieder wissen, welches Nummernschild ich habe.«

Er seufzt und sieht kurz in den Himmel und schließt dann die Augen. Kurz darauf kontrolliert er seine Waffe, entsichert sie und steigt aus dem Wagen.

Ich weiß nicht mehr, was ich mir wünschen soll. Soll er endlich morden, sodass ich frei bin? Soll der Mann nicht hier sein, sodass ich vielleicht wieder hoffen kann, dass ihn die Polizei erwischt.

Nasuh sieht ein letztes Mal zurück, sieht mich intensiv an, dann dreht er sich wieder um und geht.

Doch bevor er auch nur fünf Schritte machen kann, taucht jemand vor ihm auf. Er richtet die Waffe geschickt auf sie und sie reißt die Augen auf. Die Hände hebend, macht Begüm einen Schritt zurück, dann trifft ihr Blick auf mich.

Nur diese eine Nachtحيث تعيش القصص. اكتشف الآن