Epilog

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Ich weiß nicht, wie ich hier her gekommen bin. Ich weiß nicht, was ich hier mache und wer diese Menschen sind. Alles, was mir bewusst ist, dass ich nicht hier sein sollte. Doch nach all der Zeit bin ich noch immer so dumm, mein ganzes Leben für ihn zu opfern. Ich bin so naiv, unbelehrbar, dass ich noch immer Hoffnung habe, eines Tages des Harry zurückzubekommen, den ich liebe.

Der Harry, den ich kenne – nein, eher kannte – würde mich für verrückt erklären, weil ich mich hier, in einer dunklen Seitengasse mitten in der Nacht befinde. Er würde sich an meine Füße klammern wie ein Kleinkind und mich anflehen, das Haus nicht zu verlassen. Trotz allem würde er mir noch immer Hoffnungen machen, dass es noch einen anderen Ausweg gibt.

Doch dem „neuen" Harry ist das alles egal. Er ist und bleibt zu feig, jemals seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Daher bleibt er auch in der Klinik eingeschlossen, ohne sich zu bessern. Ich habe von Liam gehört, dass die Sicherheitsstufe für Harrys Betreuung nach oben gestuft wurde, da er noch unberechenbarer geworden ist. Jeder in dem Gebäude redet von ihm. Für alle ist er der gestörte Mann, dessen Familie ermordet wurde. Womöglich von ihm höchstpersönlich.

Ich habe mir nicht nur einmal überlegt, ihn zu besuchen. Ein Gefühl in mir wird von Tag zu Tag stärker und verlangt von mir, ihm wieder gegenüberzutreten. Es tut mir weh, zu wissen, dass er leidet und mich sehen will. Denn immer wieder wurde ich angerufen, weil er nach mir verlangt hat. Doch noch immer hat Harry bei der Polizei ausgesagt, noch immer ist er zu feig.

„Schätzchen, hast du etwas bei dir?", werde ich plötzlich angeredet, allein der Spitzname verursacht in mir ein Übelkeitsgefühl. Ich drehe mich schnell in die Richtung, aus der die Stimme in meine Ohren gedrungen ist, und erblicke sofort eine komplett schwarz gekleidete Person vor mir. Seine strahlend weißen Zähne werden im Licht der einzelnen Straßenlampe deutlich sichtbar, als er mich schief angrinst.

Angst steigt in mir hoch, welche ich sofort wieder hörbar hinunterschlucke. Ich nicke, woraufhin er mich kraftvoll zu sich zieht und ich dadurch gegen seine Brust knalle. Sein Atem streift über meinen Hals und für einen kurzen Moment spüre ich seine Lippen auf meiner Haut. „Wo hast du es denn dieses Mal versteckt?", raunt er und lässt eine Hand über meinen Körper wandern.

Als ich still bleibe, setzt er fort: „Willst du, dass ich dich ausziehe und eigenhändig danach suche? Ich bin mir sicher, dass nicht nur ich Spaß daran hätte."

Schnell schüttele ich meinen Kopf und stoße hervor: „Linke Hosentasche. Außerdem bin ich verlobt." „Ich bewundere dich echt, nach allem stehst du noch immer zu deinem Psycho. Harry hieß er, nicht wahr?"

Ich vertraue meiner Stimme nicht, also bewege ich meinen Kopf wieder nur von oben nach unten und wieder zurück. Sein Lachen hallt durch die Seitengasse als er das kleine Plastiktütchen aus meiner Hosentasche fischt. Trotz dem Wissen, dass ich nicht an ihm oder dem „Spaß", den er mir schon so oft versprochen hat, bin, drückt er zum Abschied seine Lippen auf meine. Gewaltvoll zwingt er mich dazu, meinen Mund zu öffnen und schiebt mit seiner Zunge anschließend eine kleine Pille hinein. Er löst sich von mir und steckt ein Bündel Geldscheine in meinen Ausschnitt. Mit einer Hand packt er mein Kinn und bewegt es so, dass mein Kopf nach hinten geneigt wird und ich spüre, wie die Tablette meine Speiseröhre hinunterwandert. Er wendet sich langsam von mir ab und bevor er aus meinem Sichtfeld verschwindet, ruft er mir über die Schulter zu:

„Viel Spaß mit dem Stoff, Schätzchen. Grüße Harry ganz lieb von mir, wir sehen uns bald wieder."

Frozen / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt