Auto

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Mein – besser gesagt unser – Arbeitstag geht schneller vorbei als ich gedacht habe. Harry scheint sich durch die Blumen und deren ruhige Atmosphäre beruhigen zu können. Auch wenn er von sich denkt, dass er ein Psychopath ist, behandelt er dennoch die Pflanzen mit solch einer Behutsamkeit, als würde er mir damit beweisen wollen, dass er noch immer sanft ist. Ich merke, dass in ihm ein Kampf herrscht. Einerseits will er so normal wie möglich weiterleben, doch andererseits will er sämtliche Gefühle, die sich in ihm aufgestaut haben, freien Lauf lassen. Harry weiß, dass er durch Letzteres mich verletzen könnte, so wie gestern, als er mich inmitten eines Scherbenmeeres gewürgt hat.

Natürlich ist der Verlust der Familie eine große Last, die auf seinen Schultern ruht. Noch dazu wurden ihm durch eine grausame, unmenschliche Art und Weise seine Geliebten entrissen. Jeder Mensch würde früher oder später unter diesem Trauma zusammenbrechen, doch jeder würde dies anders machen. Harry lässt seine Gefühle förmlich einfrieren, doch sobald sie wieder auftauen ist es wie eine Naturkatastrophe. Jetzt gerade, als wir im Auto sitzen und auf der Heimfahrt sind, fühlt es sich wie die Ruhe vor dem Sturm an.

„Darf ich eventuell öfters mit dir mitkommen?", fragt Harry, sein Blick ist durch die Fensterscheibe in die Ferne gerichtet. Ich nicke stumm und höre, wie er fortsetzt, doch ich konzentriere mich voll und ganz auf die Welt, die sich vor mir erstreckt.

Häuser ziehen vorbei, jedes ganz individuell gestaltet. Wir passieren ein knallgrünes Gebäude vor dem Kinder mit einem Ball herumspielen. Einige Meter später steht ein kleines, heruntergekommenes Häuschen, das aussieht, als würde sich seit Jahren niemand mehr darum kümmern. Das Einzige, das dem Anblick etwas Freundliches gibt ist der gepflegte Rasen und die zahlreichen Blumentöpfe. Die Besitzerin dieses Anwesens ist sozusagen eine Stammkundin der Gärtnerei und verwickelt mich bei jedem ihrer Einkäufe in ein langes Gespräch über den neuesten Klatsch und Tratsch der Stadt.

Eine Hand auf meinem Oberschenkel reißt mich aus meinen Gedanken an die geschwätzige, alte Frau, die mir jedes Mal aufs Neue ein Lächeln auf die Lippen zaubert, weil sie mir übereifrig alles über alle erzählt. Da ich gerade an einer Kreuzung, veranlasst durch die rote Ampel, stehen bleibe, blicke ich hinüber zu Harry. Dieser verteilt leichten Druck auf meinem Bein und fragt: „Hast du mir überhaupt zugehört?"

„Ehrlich gesagt waren meine Gedanken gerade nicht bei dir, Entschuldigung.", gebe ich beschämt zu und warte darauf, dass er wütend wird. Nie bin ich mir sicher, wann oder durch was er getriggert wird und daher ausflippt. Er ist wirklich unberechenbar, doch ich habe Verständnis für dies. Viele Menschen würden mir dafür ihre Zeigefinger an ihre Stirn halten und mich fragen, ob ich verrückt bin. Doch sie alle wissen nicht, wie viel er mir bedeutet.

Harry lächelt nur verständnisvoll und murmelt: „Ist schon ok."

Er lehnt sich über die Mittelkonsole, um mir einen sanften Kuss auf die Lippen zu drücken. Als er sich wieder von mir entfernen will, überkommt mich ein komisches Gefühl, dass mich dazu veranlasst, sein Gesicht wieder zu meinem zu ziehen. Unser Kuss ist dieses Mal nicht süß und federleicht. Er ist hitzig und lusterfüllt. Meine eine Hand vergräbt sich in seinen Locken, die andere liegt noch immer auf dem Lenkrad. Ich spüre, wie mein Oberschenkel massiert wird, und Harry immer höher fährt, bis er schließlich zwischen meinen Beinen angekommen ist. Ein leises Stöhnen entkommt meine Lippen und ich spüre, wie er in den Kuss hineinlächelt. Am liebsten würde ich ihm hier und jetzt die Kleidung vom Leib reißen und mich auf ihn setzen, doch lautes Hupen befördert mich wieder zurück in die Realität.

Schnell blicke ich auf die Ampel vor mir und erkenne, dass sie grün leuchtet. Ich trete auf das Gas und entschuldige mich mit einer Handbewegung bei dem Fahrer hinter mir, der mir sämtliche Verwünschungen deutet. Meine Wangen färben sich rot durch die Fantasien, die ich hatte, während ich Harry geküsst habe. Mit einer Hand fahre ich mir durch die Haare und ziehe leicht an ihnen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

„Ich habe diese wilde Seite von dir echt vermisst.", ertönt Harrys Stimme und ich muss nicht zu ihm hinübersehen, um zu wissen, dass er großspurig grinst. Ich verdrehe meine Augen und biege in die Straße, in der sich unser Haus befindet, ein. Da ich ihm den Triumph, dass ich mich nach ihm auf eine körperliche Art und Weise sehne, nicht gönnen will teile ich ihm mit: „Bilde dir nichts darauf ein, ich hatte monatelang eiskalten Entzug."

Ich bleibe vor unserer Garage stehen und greife nach der Fernbedienung im Handschuhfach, die die Tür öffnet. Um Harry ein wenig zu ärgern lasse ich meine Hand „unabsichtlich" über seinen Schritt fahren. Endlich halte ich das kleine Stück Plastik zwischen meinen Fingern und drücke auf den grünen Knopf. Das Garagentor öffnet sich langsam und ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, dass ich mich, als wir das Haus gebaut haben, für eine automatische Öffnung eingesetzt habe.

Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Harry angespannt in dem Sitz sich herumbewegt und sein Shirt weiter hinunterzieht. Ein Schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen und ich frage mit einer gespielten Unwissenheit: „Was ist denn los? Musst du aufs Klo?"

„Sehr lustig, May. Du weißt ganz genau, welche Wirkung du auf mich hast.", raunt Harry und verdeckt mit beiden Händen seinen Schritt. Ich lache kurz auf und fahre anschließend mit dem Auto in die Garage. Noch immer spiele ich die Nichtsahnende und teile ihm mit: „Ich weiß nicht, wovon du redest."

Ich drehe den Schlüssel um und der Motor wird ruhig. Meine andere Hand liegt noch immer auf dem Lenkrad und ich starre geradeaus auf die Wand, die vor der Motorhaube liegt. Harry schnallt sich ab und steigt aus dem Auto aus. Starr sitze ich da, während er auf die Fahrerseite zustürmt und die Tür aufreißt. Er greift über mich, um den Gurt zu lösen und zieht mich anschließend auf dem Fahrzeug. Ich werde hochgehoben und somit liege ich ihm in den Armen wie eine Braut ihrem Bräutigam und blicke in seine Augen, die mit Lust gefüllt sind. Seine Iris ist längst nicht mehr kristallklar und hell, sondern dunkel, seine Pupillen haben sich extremst geweitet. Mit einem Fuß stößt er die Tür wieder zu und entfernt sich von dem Auto.

Während Harry mich ins Haus trägt, murmelt er: „Ich warte schon so lange darauf, ich brauche dich jetzt sofort." Da mein Verlangen mindestens genauso groß ist wie seines, hauchte ich: „Dann nimm mich."

Frozen / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt