Monitor

536 46 6
                                    

Als ich aufwache, sind Harrys Arme um mich geschlungen. Mein Kopf ist nach wie vor auf seiner Brust platziert, welche sich regelmäßig hebt und senkt. Unsere Beine sind in einander verknotet. Innerlich bereite ich mich schon auf meinen Arbeitstag in der Gärtnerei vor und warte darauf, dass der Wecker läutet.

Es fühlt sich normal an.

Doch je wacher ich werde, desto schneller werde ich aus der Vorstellung, dass wir in unserem Bett in dem Haus, welches wir vor zwei Jahren gebaut haben, liegen, gerissen. In mir kommen Erinnerungen hoch, wie Harry zu seiner Familie gefahren ist, um seinen Geburtstag mit ihnen zu feiern. Wie mich eines Tages vormittags die Polizei angerufen hat mit der Mitteilung, dass Harry in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Ich sehe die zahlreichen Zeitungsberichte vor mir, stehe gedanklich wieder vor den Urnen der Verstorbenen, während Harry wie ein Verrückter behandelt wurde. Ich kann mich auch daran erinnern, als ich, nach einem harten Arbeitstag, in die Klinik getreten bin und mir die Rezeptionistin mitgeteilt hat, dass ich ihn nicht besuchen darf, weil er psychisch zu labil ist. Die Szenen, wie er ausrastet und Möbel durch das Zimmer wirft und herumschreit, spielen sich vor meinen Augen noch einmal ab. Schließlich landen meine Erinnerungen bei der letzten Nacht, in der ich um vier Uhr morgens aufgeweckt wurde, weil Harry sich selber verletzt hat.

Besagter bewegt sich leicht im Schlaf und zieht meinen Körper näher zu seinem. Ich öffne meine Augen und drehe den Kopf so, dass ich in sein Gesicht blicken kann. Selbst in einem ruhenden Zustand wirkt er durcheinander. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen und seine Lippen sind zu einem Schmollen verzogen.

Ohne darüber nachzudenken strecke ich mich nach oben und küsse ihn sanft. Mein Vorhaben, Harry aufzuwecken, wird schnell eingestellt, als er seine Augen aufschlägt und mich anschaut. Er lächelt mich verschlafen an, doch runzelt wenige Momente später seine Stirn und blickt um sich. „Wo sind wir?"

Ich richte mich auf, sodass ich nun sitze und nehme seine Hände in meine. Sein Blick wandert zu seinen Armen, die nach wie vor bandagiert sind und er fragt wieder, dieses Mal etwas panischer: „Was ist passiert?"

Der Monitor, der neben dem Bett steht, beginnt, lauter und schneller zu piepsen, was Harry noch mehr aus der Ruhe bringt. So schnell wie möglich springt er aus dem Bett und reißt sich die Kabel von den Fingern. Ein schriller Ton erfüllt den Raum und er hält sich die Ohren zu, während er die Augen zukneift. Wenige Momente später taumelt er und fällt auf den Boden.

„Sag' mir doch endlich, was los ist!", schreit er aufgebracht.

„Zuerst musst du dich beruhigen.", rede ich so ruhig wie möglich. Ich krabbele über die Matratze, sodass ich ihn besser anschauen kann. Damit ich auf Augenhöhe mit ihm bin, knie ich mich vor ihm auf den Boden. „Bitte atme tief und aus. Atme mit mir gemeinsam.", fordere ich ihn auf und sauge betont Luft durch meine Nase ein. Harry macht es mir nach und ich entleere meine Lunge wieder, wieder spiegelt er meine Aktionen. Dies geschieht ein paar Mal, bis ich das Gefühl habe, dass er sich einigermaßen beruhigt hat.

Gerade, als ich ihm alles erklären will, stürmen Krankenschwestern in das Zimmer, dicht gefolgt von Doktor Horan. Ich werde von einem Mannsweib auf die Füße gerissen, das mich anschließend anschreit, doch ich höre nicht zu. Der Arzt kniet sich vor Harry und packt ihn an den Schultern. „Was fällt dir ein, dir einfach so die Kabel runterzureißen?", fragt Niall aufgebracht und überprüft sie bandagierten Arme, tastet seinen Kopf ab.

„Beruhigen Sie sich, Doc. Meine Familie wurde vor meinen Augen umgebracht, nicht Ihre.", zischt Harry, Tränen treten in seine Augen. Anscheinend kann er sich wieder an alles erinnern, auch, wieso er sich hier befindet. Sein Blick schnellt zu mir, noch immer werde ich von dieser verdammten Krankenschwester zurückgehalten. Sie beschimpft mich nach wie vor leise in irgendeiner Sprache, die ich nicht verstehe. Im Hintergrund werken Pflegerinnen an dem Monitor herum, der seit Harry sich die Kabel hinuntergerissen hat, unaufhörlich einen schrillen Ton von sich gibt, der mir Kopfschmerzen bereitet.

Der Arzt befiehlt Harry streng: „Aufstehen." Hierauf macht er wie angeordnet, doch sobald er auf seinen Beinen steht, taumelt er wieder leicht. „Das kommt davon, wenn du aufspringst wie ein Hyperaktiver, obwohl du dir in der Nacht davor den Kopf gegen die Wand geschlagen hast.", nörgelt Niall, stützt Harry aber trotzdem.

Die zwei Männer gehen an mir vorbei, schenken mir keine Aufmerksamkeit und als ich ihnen folgen will, werde ich wieder von dem Mannsweib angemeckert. Schließlich reicht es mir und ich fahre sie laut an: „Jetzt halte doch endlich deine verdammte Fresse!"

Nun liegen alle Augen auf mir, die Hände, die noch wenige Momente zuvor um meine Arme geschlungen waren, lösen sich von mir. Die Krankenschwester geht beleidigt an mir vorbei und endlich verstehe ich, was sie sagt: „Puta." Die vielen Jahre, die ich in der High-School Spanisch gelernt habe, kommen in mir hoch und ich kann mich schlagartig an das einzige Schimpfwort erinnern, das ich in dieser Sprache gelernt habe. Empört zische ich: „Selber Bitch."

Ich gehe mit erhobenem Kopf aus dem Zimmer und stelle mich vor Harry, der sich ein Lachen verkneifen muss. Doktor Horan räuspert sich peinlich berührt und fordert uns auf: „Folgen Sie mir." Der Arzt führt uns durch zahlreiche Gänge, Harry und ich folgen ihm mit wenigen Schritten Abstand.

Plötzlich verschränkt Harry unsere Hände und raunt: „Es freut mich, dass du dich noch an Spanisch erinnern kannst." „Dieser Unterricht war immer der lustigste.", kichere ich. Erinnerungen, an die zahlreichen Stunden, in denen wir in der letzten Reihe gesessen sind und uns über die Bilder im Lehrbuch lustig gemacht haben, kommen in mir hoch und ich muss lächeln. Anscheinend hat Harry die selben Gedanken, denn er lacht kurz leise auf.

„Kannst du dich noch an ‚Enrique Paolo' erinnern?", fragt er und ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Während wir noch immer Niall folgen, pruste ich laut los und krümme mich leicht vor lauter Lachen. Dadurch ernte ich zahlreiche schiefe Blick von den Menschen, die an mir vorbeigehen, doch es ist mir in diesem Moment egal.

‚Enrique Paolo' war ein Mitschüler, der direkt vor mir gesessen ist. Er hat ausgesehen, wie ein Möchtegern-Macho mit viel zu viel Gel in den Haaren und einem Bart-Flaum. Immer, wenn Harry und ich geredet haben, hat er sich zu uns umgedreht und uns irgendetwas auf spanisch gesagt. Eines Tages hat er mich auch während des Unterrichts gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will, doch da ich schon damals Hals über Kopf in Harry verliebt war, habe ich diesen direkt vor Enrique Paolos Augen geküsst, um ihm deutlich zu machen, dass ich nicht an ihm interessiert war.

Das war übrigens unser erster Kuss.

Ich werde aus meinen Erinnerungen gerissen, als Niall plötzlich direkt vor uns stehen bleibt und sich zu uns umdreht. Der Arzt schaut uns kurz an, bevor er uns mitteilt: „Viel Spaß beim Psychiater."

Frozen / h.sWhere stories live. Discover now