Zuhause

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„Ich bin endlich wieder zu Hause.", atmet Harry entspannt aus und tritt in unser Haus ein. Sein Blick wandert durch die Räumlichkeiten, natürlich entgeht ihm nicht, dass bestimmte Gegenstände fehlen. „Wo ist das Familienbild?", fragt er und zeigt mit seinem Zeigefinger auf die freie Fläche auf der Kommode, wo früher ein Bilderrahmen gestanden ist.

„Ich habe mir gedacht, dass du es womöglich nicht sehen willst.", murmele ich beschämt während ich mir die Schuhe ausziehe. Ich dränge mich an Harry vorbei, der noch immer auf den leeren Fleck starrt. Als ich schon in der Küche stehe und die zahlreichen Lebensmittel aus der Tüte hole um sie an ihre rechtmäßigen Plätze zu stellen, höre ich ein leises „Sie sind tot."

Wieder einmal weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Ich bin hin und her gerissen zwischen ihn umarmen und trösten oder ihn einfach still trauern zu lassen. Gefühlsmäßig hat er dies nämlich nicht in der Klinik genügend getan und daher kann er nicht abschließen. Sofern man komplett aufhören kann, wegen eines Mordes, der direkt vor seinen Augen geschehen ist, zu trauern.

Eine Zeit lang ist es komplett still und ich verstaue weiterhin sämtliche Süßigkeiten und Snacks. Als ich zwei Löffel, die uns behilflich beim Eis Essen sein sollen, aus einer Schublade hole höre ich plötzlich, wie Glas zerbricht. Seufzend drehe ich mich um, um Harry auf dem Boden sitzen zu sehen, umgeben von zahlreichen Scherben. Sein Gesicht ist in seine Hände vergraben, Blut rinnt langsam seine Arme hinunter. Um ihn herum hat sich schon eine kleine Blutlacke gebildet, die Bandagen, die nach wie vor ihm als Ärmel dienen, verfärben sich rot und geben dem Ganzen noch einen verstörenden Touch.

Die zwei Löffel entgleiten meinen Händen und kommen, begleitet von einem lauten Klirren, in Berührung mit dem Boden während ich schnell auf Harry zustürme. Innerlich klopfe ich mir auf die Schulter, weil ich mir Hausschuhe angezogen habe, denn somit können sich die Scherben nicht in meine Fußsohle bohren. Zwei blutende Personen, wobei eine eine leichte Blut-Phobie hat, in einem Haus alleine würde nicht gut enden.

„Harry, geht es dir gut?", frage ich besorgt, versuche, sanft seine Hände von seinem Gesicht wegzuziehen. Sein Blick schnellt zu mir, Tränen rollen seine Wangen hinunter und seine Augen sind gerötet. Aggressiv schreit er: „Sie sind tot, wie soll es mir gehen?"

Ich versuche das ganze Blut, das in seinem Gesicht verschmiert ist und an seinen Händen klebt, auszublenden und atme tief durch. „Natürlich geht es dir deswegen schlecht, aber ich rede davon, dass du blutest.", spreche ich, meine Stimme ist überraschend ruhig. Als hätte ich mich schon an Harrys Ausraster gewöhnt.

Seine Hände packen blitzschnell meine und bevor ich reagieren kann hat Harry mich schon auf seinen Schoß gezogen. Ich versuche so gut wie möglich meine Beine vom Boden, der noch immer mit Scherben bedeckt ist, wegzuhalten. Doch da ich rittlings auf ihm sitze, eher knie, kann ich nicht verhindern, dass sich die kleinen Glasstücke in meine Knie bohren. Schmerzerfüllt zische ich: „Harry lass mich sofort runter."

Dieser lacht nur und umschlingt meinen Hals mit seinen blutgetränkten Händen. Ohne viel Druck auf meine Kehle zu verteilen zieht er mein Gesicht zu seinem und küsst mich entlang meines Kiefers. Gedankenverloren murmelt er: „So viel Blut aber kein Mörder in der Nähe."

Da ich durch die Angst, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitet, wie gelähmt bin, bleibe ich still. Harry platziert einen Kuss auf meinem Schüsselbein und umschlingt meinen Hals etwas stärker, sodass ich merke, dass meine Luftzufuhr schon beeinträchtigt wird. Mit einem Grinsen auf seinen Lippen, das man normalerweise nur von den psychisch Gestörten in Horrorfilmen kennt, haucht er ganz nahe an meinem Ohr: „Oder vielleicht doch?"

Ich kann immer weniger Luft in meine Lungen strömen lassen, da sich Harrys Hände immer mehr um meine Kehle schließen. Leise krächze ich: „Du bist kein Mörder, ich kenne dich."

Doch wieder lacht er nur laut, doch er klingt nicht fröhlich oder unbeschwert. Er hört sich gestört und krank an. Er presst seine Lippen auf meine, grob und lieblos. Langsam wandern meine Hände zu seiner Brust, um ihn von mir wegzustoßen. Mein Plan, dass er dadurch aufhören würde, mich zu würgen, lösen sich in Luft auf, als Harry sich langsam nach hinten fallen lässt und mich mitzieht. Nun liegt er komplett in den Scherben, doch scheint nicht von Schmerzen erfüllt zu sein.

Harry drückt mich an meinem Hals weg von ihn, jedoch bleiben wir so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Mit seinen Daumen streicht er über meine Kieferknochen und blickt mir verträumt in die Augen. „Schlaf mit mir.", fordert er, seine Stimme ist tief und rau und sein Ton zeigt mir, dass er keine Scherze macht.

Stumm deute ich auf meinen Hals, mittlerweile röchele ich nur mehr, ab und zu schafft es doch noch ein Atemzug, in meine Lunge zu kommen. Schnell lockert Harry seinen Griff, woraufhin ich schnell nach Luft schnappe. Hustend stütze ich mich an seiner Brust ab und versuche, meinen Atem wieder zu normalisieren. Als ich mir zutraue, dass meine Stimme nicht gebrochen klingt, spreche ich: „Wir sollten zuerst von den Scherben weg und das Blut abwaschen. Desinfizieren wäre auch nicht schlecht."

Schlagartig lösen sich seine Hände von meiner Kehle und reißen das T-Shirt, das noch vor Kurzem meinen Oberkörper bedeckt hat, von meinem Leib. Da ich mich seit der Nacht, in der ich in die Klinik gefahren bin, umgezogen habe, trage ich keinen BH und somit hat Harry freie Sicht auf meine Oberweite. Gierig legt er seine Handflächen auf meine Brüste und raunt: „Oh man, wie sehr ich das vermisst habe. Fast hätte ich vergessen, wie heiß du bist."

Ich ziehe verwirrt meine Augenbrauen zusammen, unschlüssig darüber, ob ich das eher als Kompliment oder als Beleidigung nehmen soll. Der Schmerz, der durch die Scherben an meinen Knien verursacht wird, drängt sich in den Vordergrund und noch einmal versuche ich, Harry vorzuschlagen: „Lass uns zuerst aufstehen, dir tut bestimmt schon dein ganzer Rücken weh.

Doch wie letztes Mal ignoriert er meinen Vorschlag und erklärt mir: „Wenigstens fühle ich irgendetwas."

Immer weiter wandern seine Hände über meine entblößte Haut, seine Fingernägel hinterlassen hin und wieder Kratzer. Mittlerweile kullern schon Tränen meine Wangen hinunter, pure Angst vor Harry hat sich in meinem ganzen Körperausgebreitet. Sein Verhalten ist nur mehr gestört, keine psychisch gesunde Person würde lachend in Scherben liegen und mit jemandem schlafen wollen.

Als sich wieder eine Hand um meinen Hals legt, beschließe ich, dem Ganzen ein Ende zu setzten und kreische los. Ich schreie so laut ich kann und drücke mich mit all meinen Leibeskräften weg von Harry. Meine Aktionen scheinen ihn überrascht zu haben, denn ich schaffe es, wenige Momente später auf meinen Füßen zu stehen. Doch da meine Beine so sehr zittern, dass ich befürchte, dass sie jeden Moment nachgeben, klammere ich mich an der Kommode, die neben mir steht, fest.

Wie geweckt von einem Albtraum springt Harry ebenfalls auf und schüttelt sich. Er blinzelt mehrmals um seine Sicht zu klären. Seine Hände raufen durch seine Haare und entsetzt stell er fest, dass er auf den Handflächen blutet. Als er einen Schritt auf mich zumacht, weiche ich einen zurück.

„Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.", teilt er mir verzweifelt mit und streckt eine Hand nach mir aus. Schnell schlage ich diese weg und zische: „Fass mich nicht an."

„Bitte komm zu mir, ich brauche dich.", fleht Harry mich an, doch ich renne schnell an ihm vorbei, Richtung Schlafzimmer. Verwirrt dreht er sich in meine Richtung und fragt: „Was machst du?"

„Ich denke, dass du heute auf der Couch schlafen solltest, du weißt ja, wo die Sachen sind, die du benötigst.", erkläre ich ihm bevor ich die Tür zum Schlafzimmer hinter mir schließe und sicherheitshalber zweimal absperre.

Frozen / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt