Vorgarten

384 41 10
                                    

Ich sehe zu, wie der Transportwagen gestartet wird und langsam auf die Straße fährt, nur um einige Sekunden später komplett aus meinem Sichtfeld zu verschwinden. Verzweifelt lehne ich mich an Liam und wische mir die Tränen von meinen Wangen. Sein Griff um mich wird fester und gleichzeitig herzlicher, wärmer. Er wippt uns beide beruhigend hin und her, während ich mein Gesicht an seine Brust lehne.

„Es wird ihm bald besser gehen.", will Liam mir versichern, woraufhin ich mich abrupt von ihm löse. Erschrocken schaut er mich mit großen Augen an und streckt seine Hände in meine Richtung aus, um mich wieder in eine Umarmung ziehen zu können.

Doch ich schüttele nur den Kopf und erkläre ihm: „Wie soll sich sein Zustand in der nächsten Zeit verbessern? Er hat mich bis jetzt schon zweimal erwürgen wollen und vor Kurzem hat er mir mit einem Messer in den Zeigefinger und in das Handgelenk geschnitten. Davor hat er sich wie der alte Harry, den ich kenne, verhalten."

Abwartend schaue ich Liam an und verschränke meine Arme. Er hat schon aufgegeben, mich wieder zu umarmen und mich zu trösten. Nun scheint er sich innerlich eine Antwort zurechtzulegen, ich kann ihn förmlich beim Denken zusehen. Seufzend teilt er mir mit: „Das klingt sehr stark nach einer Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgrund eines Traumas."

Borderline-Persönlichkeitsstörung. Davon habe ich zuvor schon gehört, denn ein ehemaliger Mitarbeiter in der Gärtnerei hatte es. Zayn war immer wie ein Bruder für mich, meistens hat er ein Lächeln auf den Lippen gehabt. Von Anfang an war er übermäßig nett zu mir, hat mir überall geholfen. Doch dann gab es seine schlechten Tage, Wochen, manchmal sogar einen ganzen Monat, in dem er das genaue Gegenteil war. In dieser Zeit war er praktisch verstummt, außer er hat jemanden beschimpft. Nur ein einziges Mal, als es ihm schlecht ging, hat er mir gesagt: „Ich werde mich umbringen." Am nächsten Tag war er jedoch wieder der fröhliche Zayn, mit dem es Spaß machte zu arbeiten. Das Alles ging so lange, bis er einmal mitten in seiner Schicht aus der Gärtnerei gestürmt ist und geschrien hat, dass er sich umbringen würde. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen.

Daran zu denken, dass Harry nun ebenfalls mit solch einer mentalen Belastung leben muss, zwingt mich in die Knie und ich hocke mich schluchzend auf den Boden. Ich halte mir die Hände vor das Gesicht, um die Blicke von Liam abzuschirmen. Ich spüre, wie er mir beruhigend über die Schulter streicht und mir versichert: „Alles wird wieder gut, er ist in einer guten Behandlung."

„Genau das ist ja das Problem! Weißt du, wie viel die Therapie und der restliche Blödsinn kostet und wie viel ich im Gegensatz dazu verdiene?", rufe ich aufgebracht und schau zu ihm hinauf. Ich wische mir über die Wangen, um die Tränen von diesen zu entfernen. Liam öffnet seinen Mund, um mir zu antworten, doch ich komme ihm zuvor und zische: „Zu wenig, um das Alles zu bezahlen."

Ich kann Mitleid in seinen Augen erkennen, als er sich vor mich kniet und mir eine Strähne aus dem Gesicht streicht. „Was ist mit seinem Erbe?", will Liam wissen, sein Blick wandert zu meiner Hand, die mit frischem Blut übersäht ist. Mir wird klar, dass ich so schnell wie möglich die Wunden säubern und verarzten sollte, weswegen ich mich schnell aufrichte.

„Sein Erbe ist gesperrt bis sie den Täter gefunden haben.", erkläre ich und drehe mich Richtung Haus. „Willst mit hinein kommen?", frage ich Liam über die Schulter und warte nicht auf eine Antwort, sondern gehe zu der Haustür. Er räuspert sich und wenig später höre ich Schritte hinter mir, was mir anzeigt, dass er mein Angebot angenommen hat.

Wir treten in das Haus ein und ziehen unsere Schuhe aus. Gerade, als ich im Begriff war, ihm etwas zu trinken anzubieten, greift Liam nach meinem Unterarm und murmelt: „Soll ich dir beim Verarzten helfen?"

Stumm nicke ich und führe ihn zu dem Badezimmer. Ich deute mit meiner Hand zu dem Schrank, in dem sich der Erste-Hilfe-Kasten befindet. Dieser wird von Liam herausgeholt und neben dem Waschbecken abgestellt. Er nimmt einen Desinfektionsspray in die eine Hand, mit der anderen greift er nach meinem Unterarm und fordert mich auf: „Stillhalten."

Als der Spray in Berührung mit meiner Haut kommt schreie ich kurz vor Schmerzen auf, denn dies ist noch qualvoller als der eigentliche Schnitt. Ich will meine Hand wegziehen, doch Liam verstärkt seinen Griff um meinen Unterarm. Hierauf lacht er leise: „Ich sagte stillhalten."

„Aber es tut weh.", raunze ich und er schüttelt grinsend seinen Kopf. Verband wird um mein Handgelenk gewickelt und ein großes Pflaster wird auf meinem Zeigefinger platziert. Schließlich hebt Liam meine Hand zu seinem Mund und platziert je einen Kuss über die verarzteten Schnitte. „Laut meiner Großmutter hilft das, damit es weniger wehtut.", murmelt er und räumt den Erste-Hilfe-Kasten weg.

Nachdem alles wieder an seinem vorgesehenen Ort ist, stellt Liam sich vor mich und teilt mir mit: „Es tut mir unendlich leid, dass Harry dich so schlecht behandelt hat. So etwas verdienst du nicht."

„Das ist schon ok, er ist traumatisiert und kann sich nicht kontrollieren. Hauptsache, es geht ihm bald wieder gut.", wehre ich schulterzuckend ab und schaue auf den Boden. Doch Liam hebt mit zwei Fingern mein Kinn so an, dass ich ihm wieder in die Augen blicken muss. „Du verdienst so etwas nicht.", kontert er.

Ich erzwinge mir ein Lächeln und erkläre: „Wie gesagt, Hauptsache, Harrys Zustand bessert sich. Bis dahin bin ich unwichtig." „Du sollst aber nicht unwichtig sein.", raunt Liam und langsam nähert sich sein Gesicht meinem.

Ich brauche einige Momente, um zu realisieren, dass er mich küssen will. Andauernd wechselt sein Blick zwischen meinen Lippen und meinen Augen und sein Mund öffnet sich ein wenig. Doch bevor er mich wirklich küssen kann, wende ich meinen Kopf ab, sodass er nur meine Wange trifft. Perplex entfernt er sich von mir und ist im Begriff, etwas zu sagen, doch ich komme ihm zuvor:

„Harry ist noch immer mein Verlobter, egal, wie schlecht sein psychischer Zustand ist. Er braucht meine Unterstützung, weswegen ich jetzt in die Klinik fahren werde. Soll ich dich mitnehmen?"

Niederschlagen nickt Liam und murmelt: „Ja, ich muss sowieso dort hin."

Frozen / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt